Ein Zimmer im Regen (27.08.93)

Es war kalt, und der Regen strömte über die Fensterscheibe des einen Spalt weit offen stehenden Dachfensters. Das erklärte auch die für die Jahreszeit ungewöhnliche Kälte. Der Regen war weniger zu sehen als vielmehr zu hören, denn es war schon dunkel, und der Lichtschein im Zimmer vertrieb das Draußen in Finsternis. So aber war das Zimmer nicht nur von Licht, sondern auch vom chaotischen, nicht mehr monoton zu nennenden Geräusch des die Fensterscheibe treffenden Regens erfüllt. Das Geräusch war das akustische Gegenstück zum Flimmern des Fernsehschirms nach Sendeschluß. Weißes Rauschen. Ab und zu wurde das Geräusch intensiver, ab und zu schien es nur noch leise aus einer gewissen Entfernung gehört zu werden, immer war es da.

Das Zimmer unter dem Dach war nun aber nicht nur vom Prasseln des Regens erfüllt, das geradezu visuell die Assoziation eines Kaminfeuers mit echtem, zu Asche zerfallenden Holz hervorrief, nicht nur vom gelblichen Licht einer altertümlichen Glühbirne, sondern es war - bewohnt. Bei dieser Atmosphäre ist alles andere unwahrscheinlich. Ein Zimmer ohne lebendes Wesen, ohne die Interpretationsfähigkeit eines menschlichen (?) Geistes würde nie in diesem Rhythmus klopfenden Regen besitzen, um so viel weniger erst Bilder flackernder Flammen, einen Übersprung in den Sinnesnerven erzeugen. Selbst der würzige Geruch der leckenden Flammen war in diesem Zimmer fühlbar. Es mußte also mindestens von einer Person, wenn nicht gar von mehreren, wenn auch nicht bewohnt, so doch wenigstens vorrübergehend in Besitz genommen sein.

Inzwischen war der Regen kaum noch zu hören. Trotz der drängenden, halluzinativen Beinahe-Realität des Feuers war es in dieser Wirklichkeit kalt. Verstärkt wurde diese empfindliche Kälte noch durch einen sanften Windeshauch. Dabei war es noch nicht einmal September. Es gab keinen Grund, jetzt schon in die Gemütlichkeit der herbstlichen Melancholie zu verfallen. Die Bäume waren noch grün, vor wenigen Tagen erst hatten die Sommerstage immer neue, in diesen Breiten bisher nicht gesehene Temperaturen mit sich gebracht.

Bevor wir uns dem menschlichen Inventar zuwenden, sollte näher auf Form und Inhalt des Zimmers eingegangen werden. Das Haus, dessen Dach auch dieser Raum in Anspruch nahm, war alt. Von außen hatte es den morbiden Charme eines märchenhaften Spukschloßes. Es war nur ein ganz gewöhnliches, altes Stadthaus, dessen grau gewordenen Mauern inzwischen einer ganz eigenen Flora Platz gegeben hatten.

Nicht nur Wein und Efeu rankten sich an der Mauer nach oben; Mauervorsprünge boten sogar den Pionierpflanzen einer Geröllhalde eine neue Heimat. Möglicherweise, aber das war dem oder der noch anonymen BewohnerIn des Zimmers auch nach mehr als zwei Jahren Bewohnung dieses Raumes nicht klar geworden, hatte sich auch eine junge Birke auf dem Sims verwurzelt.

Das Zimmer selbst jedenfalls hatte noch keine Geschichte von der Länge eines Haus-Lebens; es wurde erst vor vier, vielleicht auch fünf Jahren im bis dahin verwunschenen Dachgeschoß eingerichtet. Es war nicht sonderlich groß, doch zusammen mit einer Teeküche, einem noch um einiges kleinerem Bad und dem Endstück des Treppenaufgangs nahm es allen Raum in dieser Etage ein. Es war mit einem hölzernem Bett, einem Schreibtisch, einem kleinen Schrank und einigen Regalen ausgefüllt. Vielleicht half die Enge gegen die Kälte, viel Platz bot es nicht. Dazwischen wucherten Topfpflanzen.

Von den weißen Tapeten war wenig zu sehen. Die Hälfte einer Wand wurde von der Dachschräge mit dem großen Fenster eingenommen; wir erinnern das Geräusch des Regens.

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