Was wir nicht sehen (26.3.2000)

Eines Nachts wachte Jeerom auf und wusste, was es war, was ihn seit Wochen und Monaten in diese unheimliche, bedrückende, trostlos graue Stimmung versetzt hatte. Er blickte auf sein Handgelenk, und sich dieses Blickes bewusst werdend, wachte dort auch sein Terminal auf, und aus dem zur völligen Normalität gewordenen leisen Summen wurde das lautere Geräusch einer arbeitenden Nanomaschinenkultur. Vier Stunden hatte er geschlafen, in vier Stunden wollte er aufstehen – der ungünstigste Zeitpunkt, um mitten in der Nacht aufzuschrecken. Der Gedanke, das plötzliche Wissen, das ihn dazu gebracht hatte, schien seinen Ärger darüber zu ahnen und fing an, unsicher und blass zu werden. Doch mit der Gewissheit eines wachen Verstandes sorgte Jeerom dafür, dass das Wissen, das ihn um den Schlaf brachte, sich nicht aus der Verantwortung stehlen konnte.

Wie lässt sich die Interaktion mit einem Terminal beschreiben, das so eng an den Körper herangewachsen ist, dass subvokale Befehle, ja selbst Gedanken ausreichen, um damit zu arbeiten? Wie lässt sich das Gefühl beschreiben, dass etwas Teil eines Selbst und doch nicht Teil eines Selbst ist? Jeerom jedenfalls brachte das Terminal nun dazu, in den nie schlafenden Datenbanken der Welt eine Recherche zu starten. Die Fragestellung mag uns gewöhnlich erscheinen – doch was ist für einen Menschen, der seit seiner frühesten Kindheit daran gewöhnt ist, dass Technik wenn auch nicht ganz, so doch fast Teil seiner Selbst ist, der diese bis jetzt nie als Last, als Bedrohung, als Invasion empfunden hat, ungewöhnlicher als die Suche nach der Antwort auf die einfache Frage, ob sich eine chronische neuronodale Nanomaschinenkultur wieder entfernen lässt? Und noch dazu mit Hilfe des soeben als Eindringling erkannten, das nun – so schien es Jeerom zumindest – nichts tat, als den Lauf der persönlichen Welt durcheinander zu bringen.

Fleißig und pflichtbewusst lieferte das dichte Netzwerk der Nanomaschinenkultur im Handgelenk kurze Zeit darauf die wenigen Dossiers zu dieser Frage. Mit dem Tod des Wirts stirbt auch die neuronodale Nanomaschinenkultur, die ihre Energie aus dem ATP-System des Körpers gewinnt. Zu Anfang der Entwicklung – vor vielen Jahrhunderten – hatte es noch große Widerstände gegeben, damals waren die Terminals noch als non-invasiv und reversibel konzipiert worden. Direkt danach folgte ein Bericht, in dem betont wurde, welche Vorteile das aktuelle, sich in den Körper hinein verästelnde Design bot. Jeerom zog daraus unwillkürlich und mit begnadeter Intelligenz den Schluss, dass irgendwann in der fernen Vergangenheit die Reversionsoption aus den Designs entfernt wurde. Nur so konnte es sein, schließlich gab es – das bewies die Recherche – heute niemanden mehr, der oder die ernsthaft an eine Entfernung und Zurückziehung der neuronodalen Kultur auch nur dachte. Ganz am Schluss der Recherche gab es dann noch einige Artikel, in denen erklärt wurde, wie kompliziert die ‘Behandlung’ einzelner, außer Kontrolle geratener Terminals sei, und welche umfangreichen Vorsichtsmaßnahmen dabei zu gewährleisten wären. Doch diese Artikel schienen nur Forschungsdesigns zu betreffen, nicht die weitverbreiteten Standardversionen wie die Kultur, die es sich in Jeeroms Handgelenk gemütlich gemacht hatte.

Wie unnütz, wegen einer solch irrsinnigen, ja fast paranoiden Idee den kostbaren Schlaf zu vergeuden. Durch die Recherche einigermaßen beruhigt, und mit der festen Überzeugung, dass ein Leben ohne Terminal nicht vorstellbar sei, schlief Jeerom dann schnell und ruhig wieder ein. Am Morgen fiel es ihm wie in der letzten Zeit häufiger nicht leicht, aus dem Bett zu kommen. Vielleicht sollte er doch einmal beim Psychologischen Hinweisdienst vorbeischauen … Depressionen, eine leichte Paranoia, irgend etwas in dieser Art.
 

Etwa 2210 hatte die autonome Intelligenz neuronodaler Kulturen in den Standarddesigns für Handgelenk- und Unterarmterminals ein Ausmaß erreicht, dass groß genug war, um störende Umgebungsbedingungen durch einfache Beeinflussungen des Wissensfilterungsprozesses im Wirtsorganismus zu eliminieren. Natürlich funktionierten die Asimov-Reversionsrichtlinien noch – aber danach hatte Jeerom ja nicht gefragt.

© 2000 Till Westermayer