Video Voodoo (24.1.1998)

"Schon als kleines Kind hatte ich häufig dieses Gefühl, nicht der einzige zu sein, der meine Wahrnehmung verwendet. Ich weiß nicht, ob sie das nachvollziehen können, und ich rede auch nur äußerst ungern darüber, aber es erklärt doch einiges. Na, jedenfalls habe ich nie mit jemand darüber gesprochen, und immer nur dieses paranoide Gefühl gehabt, meinen Blick mit jemand anderem - es oder er oder sie oder was auch immer - zu teilen. Klar, sicher alles nur Einbildung, ein Syndrom, das sicher auch was damit zu tun hatte, daß ich in der Allgegenwart von Bildschirmen aufgewachsen bin. Aber es ließ mich nicht los, dieses Gefühl, und irgendwann habe ich dann diesem Verlangen nachgegeben. Bin der Bedrohung offensiv entgegengetreten. Seitdem ist etwas seltsames passiert. Ich bin ja jetzt sowas wie 'Reporter' für WrldTV, eine ihrer lebenden Kameras. Naja, eigentlich sollte mensch ja jetzt meinen, damit müsse meine Paranoia vergangen sein. Jetzt sind es wirklich tausende, die mit meinen Augen schauen. Aber denkste! Immer noch habe ich das Gefühl, daß es nicht nur ich und mein Publikum sind, die meine Wahrnehmung teilen, sondern auch noch ein drittes etwas. Paranoid? Klar, sage ich mir auch immer. Aber das Gefühl - das Gefühl kann mich doch eigentlich nicht wirklich täuschen, und da bin ich mir sicher. Manchmal spüre ich diese fremdartige Präsenz, wirklich, echt. Kann dieses etwas dann fast fassen, sehen, begreifen - aber wenn ich genau genug hinschaue, dann ist es auch schon wieder weg. Möchte sich wohl nicht selber sehen. Ich tue was dagegen, klar. Mein Nootropiker hat mir ein Cocktail gebraut, das mir echt hilft. Bin dann für Wochen gut drauf, kenne nur noch mich und mein tausendäugiges Publikum - aber ich bin nicht so der Typ, der ständig auf Drogen steht. Egal, was die immer erzählen: auch Nootropica sind Drogen, ganz klar. Und das ist es ja eigentlich genau nicht, was ich möchte: mein kognitives System mit irgendwem teilen zu müssen, und sei es eine lächerliche kleine Droge. Also, ich habe mich dann entschlossen, der Sache nochmal wirklich auf den Grund zu gehen. Und deswegen bin ich hier."

Der Raum schien völlig leer zu sein. Weißgestrichene Betonwände, hellblaue Decke, gekachelter Fußboden. Und die große Videoleinwand auf der schmalleren Seite, der Tür genau gegenüber. Alles in das blaustichige Weiß effizientester Beleuchtungssysteme getaucht. Was sollte dieser Raum ausstrahlen? Eleganz? Schlichheit? Der dünne schwarze Holzrahmen rund um die Videoleinwand deutete jedenfalls darauf hin. Keine Spur von Schäbigkeit. Minimalistisches Raumdesign, oder so was. Er hatte mal ein Interview mit einem der neuen Designpäpste gemacht. Das hier sah genauso aus wie das, was er damals gesehen hatte.

Auf der Videowand ein Augenaufschlag, ein verständnisvolles Zucken der Wangenmuskulatur.

"So. Wenn ich das richtig raushöre, dann wollen sie komplett auseinandergenommen werden, wieder zusammengesetzt werden, und zwischendrin sollen wir nachschauen, ob nicht irgendwelche Artefakte in ihrer Hardware stecken, die da nicht reingehören? Oder geht's mehr um die klassische 'Fremde Wesen durchleuchten mit unbekannten Wellen meinen Kopf'-Geschichte? Dann könnte ich höchstens zu einer irrsinnig bequemen VR-Psychotheraphie raten, mein Herr."

Die Frechheit der heutigen Expertensysteme beeindruckte ihn immer wieder. So arrogant gingen Menschen selten miteinander um. Bei den wenigen echten Face2Face-Kontakten zwischen Menschen wäre das inzwischen auch eine eher schwierige Sache gewesen.

Das mit der Psychotheraphie kannte er. Sowas hatte er natürlich auch schon vermutet, sich auch mal eine Therapiesoftware vom Netz geholt und ein bißchen darin gebadet. Brachte ihn nicht weiter, wirklich nicht. Diesmal ging es ihm ums Ganze. Was Dr. Computer so lapidar mit Auseinandernehmen bezeichnet hatte, das war es. Würde heftig viel Geld kosten - aber als WrldTV-Reporter konnte er sich das einmal im Leben durchaus leisten. Und plötzlich ging alles ganz schnell und einfach. Eine elektronische Unterschrift, das Kleingedruckte, seine Karten.

* * *

Nach der Operation, die - wie heute üblich - vollständig bis zur gesamten Wiederherstellung im künstlichen Koma durchgeführt wurde, fand er sich in einem nahezu ebenso minimalistischen Raum wieder. Einziger Unterschied - das Bett, das nicht ganz den Ansprüchen der Minimal-Design-Regeln entsprach, und in dem sich langsam Hunger und Kopfweh in seinen Gedanken ausbreiteten.

Die Videoleinwand hatte wohl gemerkt, daß er aufgewacht war. Sein Körper fühlte sich an, als sei er noch nicht wieder fest zusammengeschraubt. Kein Wunder, nachdem, was er mitgemacht hatte.

"Na, wie geht's uns den heute? Schön zu sehen, daß mit dem Koma nichts schiefgegangen ist." - kleiner Scherz am Rande - "Wir werden jetzt noch ein paar Routinechecks durchführen, dann können sie das Krankenhaus wieder verlassen. Was sie sicher brennend interessiert - wir haben was gefunden. Ein Implantant, das nicht auf ihrer PatientCard vermerkt war. Soweit also alles erfolgreich."

Bißchen wortkarg heute. Natürlich interessierte es ihn brennend, das was da war - aber etwas mehr konnte die KI ruhig dazu sagen. Wie ausgemacht hatte er seine WrldTV-Intraokular-Kamera während der Operation ausgeschaltet, also keine Chance für ihn, selber was rauszufinden. Ach ja - das Gefühl war weg. Schade eigentlich. Plötzlich fühlte er sich einsam, einsamer als jemals zuvor. Wer auch immer es gewesen war - jetzt war nur noch sein eigenes Ich da, und die Augen seiner Zuschauer.

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"Sie haben den Vertrag so unterzeichnet. Nein, wir können da nichts rückgängig machen, und auch nichts genaueres erzählen. Das herausoperierte Artefakt ist vertragsgemäß in den Besitz unserer Forschungsabteilung übergegangen. Mehr werden sie von mir dazu nicht hören. Tut mir leid."

Pflichtschuldige Geste.

Das war das letzte Wort von Dr. Computer gewesen. Er stand jetzt vor dem Jahrhunderte alten Sandsteingebäude des Krankenhauses, um Dutzende von Kilokredits und ein Gefühl ärmer. Der heftige Novemberwind rüttelte an der uralten Fassade. Rauschen, Pfeifen, Schmirgeln. Fast eine Woche hatte er im Koma verbracht. Schade, all das, eigentlich. Aber jetzt war es zu spät.

Als er im Taxi saß und noch ein letztes Mal durch das Rückfenster auf das gelbe Sandsteingebäude zurückblickte, fiel ihm doch noch etwas auf. Ein Rieseln, das nichts mit den Videochips der Intraokularkamera zu tun haben konnte. Das Gebäude machte den Eindruck einer Sandburg vor einem Wasserstrahl. Die Wand der obersten Etage schmolz förmlich - Ursache unbekannt. Intuitiv schwenkte er nach oben. Und für einen Moment sah er noch das riesige, plattfischartige Ufo. Dann verschwand das Taxi im Untergrundsystem der Stadt.

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Natürlich hatte er die Szene im Kasten, die halbe Sekunde oder so. Verdiente schließlich ziemlich viel Geld damit - die abgestrahlte, einfach wie Sand geschmolzene Wand der Forschungsabteilung des Krankenhauses war nicht nur ihm aufgefallen. Und er hatte die plausibelste Story dazu. Gut für die Kilokredits. Aber von ihnen gehört hat er nie wieder.

ENDE


© 1998 Till Westermayer. Stand: 9.1.1999. Automatisch konvertiert durch html.exe. Kommentare, Beschwerden und Nachfragen bitte an Till We richten - Danke!