Schrecken (08.06.2001)

Zu den sanften Klängen von Eso+ schiebt sich langsam die Erde auf den wandgroßen Sichtschirm, einer blau-grünen Blume gleich. Wandgroß? Fast eine Untertreibung – die Wand, die der Sichtschirm einnimmt, ist doppelt so breit wie die anderen drei Wände im Monitorraum 11. Das gibt dem Raum einen trapezförmigen Grundriss und führt zu eindrucksvollen Aha-Rufen bei Neulingen. Der trapezförmige Grundriss soll aber nicht nur behilflich dabei sein, Eindruck zu schinden. Vielmehr haben die ArchitektInnen es so möglich gemacht, zwölf Beobachtungsstationen auf der Monitorebene der Station unterzubringen. Zwölf Monitorräume, und in dreien davon schiebt sich jetzt langsam die Erde in den Sichtbereich. Die Station umkreist den Planeten wie ein zweiter Mond, und wenn die Umstände günstig sind, ist sie von der Erde aus als leuchtender Fleck zu sehen.

Die Monitorräume sind alle identisch eingerichtet. Der Sichtschirm, etwa in der Mitte des Raumes der Schreibtisch mit den Kontrollelementen. Die Wände und die Decke sind matt-schwarz, das bläuliche Neonlicht umfasst wenig mehr als den Kontrolltisch. Teile der Wände sind mattgetönte Glasscheiben, durch die schemenhaft der anliegende Monitorraum zu sehen ist. Keine Bilder, kein persönlicher Schmuck, nichts, was ablenken könnte. Selbst bei der Musik gibt es Vorschriften. Aber Eso+ ist okay, sagt der Computer.

Die Männer und Frauen, die alle zwei Stunden abgelöst werden, um höchste Konzentration zu gewährleisten, haben eine langweilige Aufgabe: Genau beobachten. In zwölf Räumen, auf zwölf Bildschirmen, in vier Frequenzbereichen. Es würde die Station nicht geben, wenn da nicht die Männer und Frauen wären, die alle zwei Stunden erschöpft und gelangweilt in ihre achtzehn Stunden Freizeit entlassen werden. Die Station wurde von den Vereinten Nation gebaut, damit in den zwölf Räumen mit den Bildschirmen hundertvierzig BeobachterInnen eine nach der anderen Tag und Nacht Ausschau halten können. Sie ist die erste, seit fünf Jahren in Betrieb, drei weitere sollen folgen. Und es gibt nur einen Grund dafür, dass hier, mitten in der Dunkelheit des Alls in schwarzen Räumen Menschen sitzen und angestrengt Ausschau halten: Damit der Schrecken sich nicht wiederholt, damit nicht ein zweites Mal passiert, was beim ersten und bisher einzigen Mal fast das Ende der Menschheit bedeutet hätte.

Mit vielem hatte die Erde damals gerechnet. Das Unbekannte Objekt im Anflug auf den blauen Planeten hatte zu hektischen Aktivitäten geführt. Die Überreste des Krieg-der-Sterne-Systems der Amerikaner und des russischen Weltschirms wurde mit den chinesischen Kampfsatelliten fusioniert, um alles in Nichts zu verwandeln, was es wagte, der Erde zu nahe zu kommen. Zeit war genug gewesen – als das Unbekannte Objekt entdeckt wurde, war die Zeitungsschlagzeile noch »Freunde, wir sind nicht alleine!« gewesen. Als zwei Jahre später der Saturn zu Energie wurde, traten Militärs mit längst entwickelten Geheimplänen an die Öffentlichkeit. Was auch immer es war, es machte keinen freundlichen Eindruck auf die Menschheit. Und wie die Philosophen es vorausgesagt hatten: der Druck einer äußeren Gefahr einte die Nationen, machte aus der UNO eine äußerst handlungsfähige Organisation, brachte Russland und Amerika genau-so an einen Tisch wie China und Indien.

In den sieben Jahren bis zum Morgen des Schreckens selbst verging kaum ein Tag, an dem nicht Spekulationen über die Motive, die Herkunft, die genaue Arbeitsweise des Unbekannten Objekts in den Nachrichtensendungen und auf den Titelseiten der Zeitungen verbreitet wurden. Zwei Tage vor dem berechneten Ankunftstermin war es da – und keines der hochsensiblen Systeme hatte etwas bemerkt. Gerade eben war das Unbekannte Objekt noch genau auf dem berechneten Kurs gewesen und wurde von hundert Augenpaaren in den Observatorien dabei beobachtet – und plötzlich war es nicht mehr dort, sondern hier. In der Umlaufbahn des Mondes um die Erde, auf der anderen Seite, über der indischen Landmasse. Keines der Systeme hatte etwas gemerkt, keines hatte reagiert.

Der Spuk währte nur wenige Minuten, kaum Zeit genug für die Militärjets und -raketen, in die Luft zu steigen. Danach war das Unbekannte Objekt verschwunden – befand sich wieder auf der vorausberechneten Bahn, dort wo es in vier Tagen erwartet wurde, auf der anderen Seite der Erde, auf einem Kurs, der es in einigen Jahren aus dem Sonnensystem heraus befördern würde. Aber nicht nur das Unbekannte Objekt war verschwunden. Asien fehlte der indische Subkontinent – am südlichen Fuß der Himalaja-Kette brandete nun der Indische Ozean, und zog gewaltige Flutwellen und Strömungen hinter sich her.

Die Tage danach waren von Chaos geprägt, die Jahre danach vom Schock, ein Sechstel der Menschheit innerhalb von Minuten verloren zu haben, und zwei weitere Sechstel im Chaos, in den Flutwellen, in den Klimaänderungen danach. Kein Tag würde für die Menschheit nach dem Schrecken wieder so sein wie zuvor. Die Vereinten Nationen hatten den Vorbeiflug des Unbekannten Objekts überlegt, erst geschwächt durch das offensichtliche Versagen aller Sicherheitssysteme, dann gestärkt durch die nach den Jahren des Schocks aufkommenden Rachegedanken dem unbekannten Anderen gegenüber. Neue Religionen kamen auf, Philosophinnen und Philosophen stellten vorher nie gefragte Fragen. Und langsam kristallisierten sich neben den Problemen eines post-apokalyptischen Alltags einer halbierten Menschheit auf einem lädierten Planeten zwei Themen heraus, die für Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte die politische Agenda verschoben haben. Es entstanden Theorien darüber, dass Menschen wachsamer seien als Maschinen, nicht so leicht zu beeinflussen wie die hochsensiblen Computersysteme des überraschten Verteidigungsgürtels. Pläne für das Auge der Menschheit wurden gemacht, und ein neues Raumfahrtprogramm entstand, das nach weiteren zwanzig Jahren die erste von vier Stationen ins All hievte, an Bord zweihundert Menschen, hundertvierzig BeobachterInnen und sechzig TechnikerInnen, allesamt Kinder der Überlebenden. Und zäh wird am Auge II gebaut, egal um welchen Preis. Noch einmal soll es nicht übersehen werden, noch einmal soll es nicht zubeißen!

Schutz ist der eine Gedanke. Der andere heißt Rache. Seit nunmehr dreißig Jahren sinnen Militärs und WissenschaftlerInnen darüber, wie die Verfolgung aufgenommen werden kann, das Unbekannte Objekt eingeholt und vernichtet werden kann. Es selbst – Mittelpunkt neuer Religionen, zentraler Gedanke einer halbierten Menschheit – wird noch immer von den Observatorien und auch vom Auge aus beobachtet, wie es das Sonnensystem wieder verlässt. Und bisher hat es seinen Weg eingehalten. Es wird noch einige Dekaden dauern, bis die Erde Rache nehmen kann, hinterhereilen kann, schneller sein kann. Die Pläne stehen.

* * *

Und irgendwo da draußen leuchten andere Blumen, und eifrig summen Insekten umher, um Energie zu saugen und weiter zu fliegen, in ihrem ewigen kosmischen Tanz, gedankenlos.

© 2001 Till Westermayer