Blau (25.12.1997)

Blaue Funken schlugen sich irgendwie durch. Die Nacht war noch neu und doch schon wieder so dunkel. Die Nacht wäre nicht so dunkel gewesen, wenn nicht die neueste Devise gewesen wäre, daß ab sofort alle verfügbare Energie aufgespart werden müsse - ein schwieriges Manöver stand bevor, und es war besser, die Schiffsenergie erst dann zu verwenden, sie nicht jetzt sinnlos für Licht, Wärme und andere Bequemlichkeiten zu verwenden. Wenn mit dem Manöver alles klarging, würde danach mehr als genug an Energie zur Verfügung stehen, um die Entbehrungen auszugleichen, - wenn nicht? - dann würde das, was jetzt gesammelt wurde, grade ausreichen, um nicht in einen lebensgefährlichen Zustand zu kommen. Bis diese Frage geklärt war, blieben eben nur die blauen Funken, die nur in dieser tiefen Dunkelheit zu sehen waren. Es gab keinen Mond, der Licht hätte spenden können, und die Nacht war lang und kalt, und die Sterne am Firnament schienen winzig und entrückt zu sein. Das technische Personal hätte mir sicher erklären können, wie diese Funken zustande kamen, welche unserer Maschinen und Automatiken, welche fortgeschrittene Technologie als Abfall blaue Funken produzierte, aber mir war jetzt nicht danach, auf diese Frage eine Antwort zu erhalten. Viel lieber nahm ich die Funken als ein Zeichen dafür, daß es nicht völlig Nacht geworden war, daß das Schiff noch lebte - irgendwie - und daß wir vielleicht doch eines Tages unser Ziel erreichen würden.

Dieser Planet hier war mondlos und auch sonst eher unromantisch und unwirtlich. Fast vier Fünftel seiner Oberfläche waren mit Wasser bedeckt, und es gab keine einzige große zusammenhängende Landmasse, sondern nur hunderte oder tausende kleiner, wild über die Wasserfläche verstreuter Inseln und Kontinentchen. Die meisten davon waren unbewohnt oder unbewohnbar, nicht einmal die hier einheimischen Pflanzen hatten es geschafft, sich eine breite Basis zu erobern. Von den wenigen existierenden Tieren ganz zu schweigen. Im Ozean tobte das Leben - wenn wir auch dort nur relativ dumme Spezies gefunden hatten, aber diese dafür in großer Vielfalt - aber die Inseln waren einsam, unbelebt, verdammt und verloren. Grade einmal einhundert verschiedene Pflanzenarten hatten unsere BiologInnen bisher finden können, und nur zehn Landtiere (darin eingeschlossen auch Würmer und Insekten).

Eigentlich hätte mich jetzt die große Depression überkommen müssen, Trostlosigkeit und Einsamkeit. Alleine als einziger Passagier auf diesem Schiff in der finsteren Nacht, ohne in der Lage zu sein, irgendetwas nützliches tun zu können, und dann auch noch mit der nur noch bangen Hoffnung, mein Ziel tatsächlich zu erreichen.

Mein Ziel? Es gab einen einzigen Ort auf diesem ganzen großen kalten blauen eisigen Planeten, der eine Verbindung zum Rest der Welt bot - einen einzigen Raumhafen, in der einzigen größeren Stadt, die es geschafft hatte, hier gebildet zu werden. Fast fünf Jahre lang hatte ich mich jetzt auf dieser Welt herumgetrieben, war von Insel zu Insel getrampt, hatte an meinem Buch geschrieben, Fotos gemacht, den Planeten 'erforscht' - alles mit dem vagen Gedanken, auf etwas neues, spannendes, aufrüttelndes zu treffen, etwas, was es noch nicht gegeben hat.

Wissen Sie, es ist nicht ganz einfach, im 26. Jahrhundert zu leben und den Wunsch zu haben, etwas neues zu erfahren. Alle Erfahrungen riechen schon gebraucht, und alle Erlebnisse sind nur noch recyclete Neuware, kommen den Rohstoffen gleich, die ebenfalls die Zyklen der Wiederverwertung tausende Male durchlaufen haben. Im 20. und 21. Jahrhundert nahm man Drogen - heute ist die Neurochemie perfektioniert, jede gewünschte Stimmung per Taschencomputer mixbar. Im 22. Jahrhundert rief endlich der Weltraum nach uns; und wir, die wir uns schon am Ende der Wissenschaft geglaubt hatten - und an der Unbezwingbarkeit der Lichtjahre, die uns von allem anderen trennten - lernten eine außerirdische Zivilisation kennen, deren Technologien und deren Methoden der Quantenpsychophysik, mit denen große Entfernungen endlich kein Problem mehr darstellten. Bis Mitte des 25. Jahrhunderts hatten wir uns über das ganze Universum ausgebreitet, die Sehenswürdigkeiten der galaktischen Tourismusindustrie kennengelernt, Novas aus der Nähe betrachtet. Heute ist das All nur noch eine Matrix aus Wünschen, die - die entsprechenden Mittel vorausgesetzt - sofort erfüllt werden können. Es gibt nichts neues mehr, große wissenschaftliche Entdeckungen sind keine mehr zu erwarten, wir wissen jetzt alles - sogar, warum wir nicht unsterblich sein können, daß aber immerhin eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwa 250 Jahren möglich ist. Und daß die Idee einer Zeitreise Quark ist. Wir haben alle Formen des Zusammenlebens ausprobiert. Alle Gefühlszustände ausprobiert. In der Kunst ist neues nur noch das, was am längsten kein Revival mehr gefeiert hat. Cyberspace? Damals war's eine neue Darstellungsweise für alte Ideen, und mehr ist es heute auch nicht, nur daß es eine sehr alte Technik ist, mit der die immergleichen Ideen nun dargestellt werden können. Es gab Weiterentwicklungen, Perfektionierungen - heute können wir wirklich erfahren, was ein anderer Mensch fühlt, dessen Sensorium komplett übernehmen. Das ist ein, zwei, dreimal vielleicht spannend, neu und prickelnd - und dann hat jeder rausgefunden, daß die anderen so anders auch nicht sind. (Selbst bei denjenigen nicht- menschlichen Lebensformen, mit denen wir überhaupt kommunizieren können)

Sie nervt mein Klagelied? Mich auch - allzusehr erinnert es an die fin-de- siecle-Gesänge der vergangenen tausend Jahre. Wie gesagt: Es gibt nichts neues mehr zu entdecken.

Trotzdem: Vor fünf Jahren dachte ich, tatsächlich etwas neues finden zu können, auf diesem unwirtlichen, uninteressanten, in sich selbst ruhenden Planeten aus Wasser. Es gibt Statistiken darüber, wie oft welcher Planet besucht wurde, wieviele Subjekte schon wo Erfahrungen gesammelt haben. Dieser Planet lag zusammen mit drei oder vier anderen ganz am Ende der Hitparade. Least-wanted, sozusagen. Aber auch am un-erfahrensten, unbekanntesten. Wenn irgendwo überhaupt noch etwas zu finden ist, dann hier, dachte ich mir - irgendwelche Flecken Land, die nicht schon tausendmal fotografiert, durchsucht, abgescannt, retrografiert und andiskutiert worden sind. Nada. Nichts. Alles bekannt, ich habe sogar Aufzeichnungen gefunden, die bis auf kleine Details fast exakt meiner Wanderroute glichen.

Vielleicht verstehen sie jetzt, warum ich ganz froh bin, daß diese blauen Funken für mich noch ein Geheimnis darstellen. Es ist nicht ganz das gleiche - ich weiß das ich mich nur an ein Besatzungsmitglied wenden müsste, um alles darüber zu erfahren - aber ein bißchen den Reiz des Unerklärlichen simuliert es für mich doch noch. Und nun warte ich.


© 1997 Till Westermayer. Stand: 9.1.1999. Automatisch konvertiert durch html.exe. Kommentare, Beschwerden und Nachfragen bitte an Till We richten - Danke!