Alle Jahre wieder (19.12.2001)

"Und, was habt ihr zu berichten von den seltsamen Sitten und Gebräuchen jener fernen Welt?" Der Gelehrte, Mitglied der wissenschaftlichen Akademie, konnte sich noch immer nicht ganz ein Zucken der Mundwinkel verkneifen, als er wieder einmal mit anhören musste, dass der Ehrfurchtsgebietende Wrug noch immer nicht die korrekte Intonation von Fragesätzen beherrschte. Der mit seinen zweihundertdreizehn Jahren jugendliche Herrscher hatte einfach - jedenfalls in den Augen eines Mitglieds der wissenschaftlichen Akademie - keine Manieren. Sich jetzt nichts anmerken lassen, und eine unterhaltsame Anekdote berichten!

"Ehrfurchtsgebietender Wrug, es gibt in der Tat einiges zu berichten über die Sitten und Gebräuche jener fernen Welt. Insbesondere in den letzten fünfzig Jahren hat sich dort einiges getan. Zu beobachten ist insbesondere eine massive Zunahme eines neuen Rituals. Unsere Wissenschaftlerinnen und Magier haben es schon lange erahnt, jetzt zeichnet es sich als Wirklichkeit ab. Wir haben dem Phänomen den Namen ‚Ritueller Kannibalismus' gegeben, gerne kann ich Euch mehr darüber berichten."

Der Wrug biss kräftig in das schwarz geröstete Fleisch der Keule in seiner Hand und meinte dann (mit vollem Mund!): "Bitte sehr, nur zu. Bin ganz Ohr! Amüsiert mich, sowas."

Der Gelehrte berichtete also über das Phänomen des rituellen Kannibalismus. "Natürlich sind unsere Mittel eingeschränkt. Wir wissen nicht, was in den Köpfen der Untersuchungsobjekte vorgeht, dazu wären weitaus teurere Gerätschaften zur Erkundung notwendig. Aber wir können aus Indizien einiges schließen." Der Wrug zuckte ungeduldig mit der Augenbraue seines mittleren Auges. "Ich denke nicht, dass euch, Ehrenwerter Wrug, die genaue wissenschaftliche Methodik interessiert - überspringen wir diesen Teil also."

"Was wir an Beobachtungen gesammelt haben, ist, kurz gefasst, folgendes: alle Jahre wieder begibt es sich, dass in großen Gebieten der nördlichen Hemisphäre jenes Planeten, aber auch auf einer der großen südlichen Inseln etwa zwischen der Herbsttagundnachtgleiche und der Wintersonnenwende die Warenhäuser gefüllt werden mit vielfältigen Nachbildungen jener Wesen. Das ist an und für sich nichts Neues, insbesondere in den Kleidungshäusern und in den Läden mit Opfergaben für die Brut sind das ganze Jahr über recht naturgetreue Wiedergaben der untersuchten Wesen zu finden, vielleicht eine Art primitiver 3D-Fotografie." Der Wrug schmunzelte, weil 3D-Fotografie eine der großen Errungenschaften in der Regentschaft seiner Großeltern gewesen war.

"Wie es auch sei, zwischen Herbsttagundnachtgleiche und Wintersonnenwende jedenfalls werden nicht nur diese bekannten Nachbildungen bereitgehalten, sondern auch besondere rituelle Figuren, zu deren Erwerb eine große Zahl an Metallmünzen geopfert werden muss. Zu nennen wäre es insbesondere die in den 30er Jahren von einem der Multis kreiierte Figur des ‚Santa' (Kennzeichen: roter Mantel), inzwischen als Jahreszeitengottheit verehrt. Aber in einigen Gebieten - so haben wir festgestellt - gab es schon davor ähnliche Gebräuche, die sich bis heute gehalten haben. So wurden und werden dort in allen Größen Brote in der Form dieser Lebewesen gebacken, allerdings eine relativ abstrakte und kunstlose Form der Ritualfigur. Diese Jahreszeitengottheit wird auch in öffentlichen Aufführungen durch Schauspieler verkörpert, und mit lauten Glocken herbeigerufen."

Der Wrug wurde ungeduldig, jetzt zuckten schon zwei der drei Augenbrauen. "Kommen wir zur Pointe der ganzen Sache: Diese Figuren werden - altertümlicherweise, wie gesagt, als Brote gebacken, in neuerer Zeit als ‚Santa' in Schokolade (einer der dortigen Drogen) gegossen, und dann - verspeist! Zumeist mit dem Kopf zuerst!"

Mit einem Ausdruck des Ekels über soviel Primitvismus wandte sich der Wrug ab, nicht ohne noch einen kräftigen Bissen von der schwarz verkohlten Keule genommen zu haben. "Genug, genug. Wir sollten sie vernichten! Der nächste bitte"

Der Gelehrte eilte, sich ehrfürchtig verneigend rückwärts hinaus, dabei sorgsam darauf achtend, dass sich seine Tentakel nicht verfangen. Schade, schade, dachte er bei sich, dass der Wrug keine Geduld aufbringen konnte - keine Manieren, die Jugend. Gerne hätte er noch davon berichtet, was die Akademie aus diesem seltsamen Verhalten für Schlüsse gezogen hatte, davon, dass sie vermuteten, dass in den Behausungen und Tempeln dieser Wesen an den so genannten ‚Weihnachtsfeiertagen' noch üblere, vielleicht nicht einmal rituelle Formen des Kannibalismus stattfinden würden (gemunkelt wurde etwas von Wein, der sich in Blut verwandle …) und dass das alles nur den einen Zweck hatte, der Jahreszeitengottheit (und den Mitmenschen!) durch den Verzehr ihrer Ebenbilder (bis zur Übelkeit!) so viel Angst einzuflössen, dass nach der Wintersonnenwende die Tage wieder an Dunkelheit verlören. Aber der Wrug - immer diese Ungeduld! Eines Tages würde er seine Drohung noch wahrmachen und die Erde vernichten. Schade drum - wirklich ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Gerade zur Weihnachtszeit!

© 2001 Till Westermayer. Veröffentlicht in u-asta-info #679, 19.12.01, S. 3.