Eine kurze und frei erfundene Geschichte des InterNet

Till Westermayer (Juli 2006)

1970: Universitäten, große Firmen und Regierungen bauen Rechenzentren auf, in denen die modernsten Rechenmaschinen stehen. An Stelle von Röhren und Relais werden erste Transistoren eingesetzt. Das Zeitalter der weithin verfügbaren Großrechner beginnt. Die Ein- und Ausgabe verläuft über Lochkarten und Teletype-Drucker.

1975: Inzwischen gibt es sogenannte Time-Sharing-Systeme. IBM bewirbt die Ein- und Ausgabe im Dialogbetrieb als wichtigste Neuheit des Jahrzehnts. Die existierenden Großrechenanlagen werden nach und nach auf Dialogbetrieb umgestellt.

1978: Im Rahmen eines militärischen Forschungsprojektes wird ein Protokoll entwickelt, das zwei Großrechenanlagen miteinander vernetzen kann. Das Protokoll ist so ausgelegt, dass es jede verfügbare Infrastruktur zur Datenkommunikation nutzen kann, etwa Telefonleitungen. Der Versuch verläuft erfolgreich: am 3. März 1978 werden zwei wenige Meter entfernt stehende Rechenanlagen in einem militärischen Forschungszentrum in der Nähe von Los Angeles vernetzt. Die Nachricht lautet "LA-1 TO LA-2!". Auf Bestreben des verantwortlichen Leiters der amerikanischen Militärforschung wird die Weiterentwicklung elektronischer Kommunikation als Geheimprojekt fortgeführt, klassifiziert als Top Secret, offiziell begründet mit dem Schutz vor Ostblockspionage und dem Ziel der militärischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten.

1984: Zentralprozessoren, Speichersysteme und Monitore werden leistungsfähiger und günstiger. Der Personalcomputer wird erfunden und von den etablierten Büromaschinenfirmen wie IBM und Telefunken verbreitet. Er setzt sich schnell durch, insbesondere im Umfeld kommerzieller Büros und Buchhaltungen. Die großen Mainframe-Systeme werden bald abgelöst. Betriebssystem, Software und Anwendungen für den Personalcomputer gibt es firmenspezifisch und aus einer Hand. Kompatibilität zu Nachfolgemodellen wird zugesichert, firmenübergreifende Standards gibt es nicht. An Universitäten werden speziell konzipierte Forschungsrechner eingesetzt. Teilweise wird dort – auch aus Kostengründen – der Betrieb der modernisierten Großrechenanlagen fortgesetzt. Auch die ersten Rechner für den Heimgebrauch kommen auf den Markt: der IBM Micro Office und die als reine Videospielkonsole ausgelegte Commodore-Machine.

1986: Telefongesellschaften – sowohl die große amerikanische Bell als auch staatliche Behörden wie die Deutsche Bundespost – entdecken, dass es einen gewissen Bedarf dafür gibt, Daten zwischen Rechenanlagen datenträgerlos auszutauschen. Es werden nationale Datenaustauschstandards entwickelt, die über behördlich zertifizierte Hardware (NatDAU-Box) den Anschluss von Rechenanlagen an das Telefonnetz erlaubt. Parallel dazu laufen Versuche mit dezidierter Bildschirmtextkommunikation. In der Bundesrepublik Deutschland setzt sich – ähnlich wie auch in den USA, in Großbritannien und in Frankreich – schließlich die Variante durch, den datenträgerlosen Datenaustausch über zu mietende Zusatzhardware durchzuführen. Ende des Jahres wird ein Standardisierungsgremium einberufen, um EuroDAU zu entwickeln.

1987: Es kommt zu heftigen politischen Debatten über Datenschutz im Zusammenhang mit NatDAU und EuroDAU. Oppositionelle Kräfte wie etwa die GRÜNEN fürchten, dass Nat-DAU zur Überwachung eingesetzt wird. Letztlich wird gesetzlich festgelegt, dass der datenträgerlose Datenaustausch keine Mediendienstleistung darstellt, von einer eigenes zu gründenden Netzregulierungsbehörde auf Bundesebene zu überwachen ist und aus Sicherheits- und Datenschutzgründen Bestandteil der Monopolbehörde Bundespost bleiben muss. In der Tagesschau wird vor dem Einsatz selbstgebastelter DAUs gewarnt, wie sie etwa vom Club Hannoveraner Hacker (CHH) entwickelt wurden. Die CDU/CSU-Regierung setzt im Rahmen des Gesetzes zur Sicherung des datenträgerlosen Datenaustausches zwischen Rechenanlagen (GdDR) durch, dass der Einsatz nicht zertifizierter DAU-Boxen eine Straftat darstellt. Begründet wird dies insbesondere mit der schwierigen politischen Lage im fortdauernden Kalten Krieg. Spitzengespräche zwischen dem US-Präsidenten und dem Generalsekretär der KPdSU werden abgebrochen. Es kommt zu beiderseitigen Drohgebärden. In der Bundesrepublik werden führende Mitglieder der CHH verhaftet. Es wird offen über die Möglichkeit gesprochen, die CHH als Nachfolgeorganisation der RAF zu behandeln, insbesondere, als verbotene Kontakte in den Ostblock nachgewiesen werden können. In einer Novellierung des GdDR wird nun auch der Besitz nicht behördlich geprüfter Rechenanlagen verboten.

1988: Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Ostberlin scheitert die Perestroika-Bewegung. Der Status Quo wird eingefroren. Modernste Rechentechnik wird zum Schutz der Grenzanlagen eingesetzt. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl wird um ein regionales Militärbündnis zur Sicherung der Ostgrenzen ergänzt, das Europäische Verteidigungsbündnis. In diesem Rahmen wird eine Vernetzung der militärischen Rechenanlagen im Rahmen des nun verfügbaren EuroDAU-Programmes beschlossen. Die zivile Nutzung von DAUs bleibt jedoch auf den nationalen Rahmen beschränkt. Der CHH-Vorstand sitzt weiterhin in Untersuchungshaft, ein Prozessbeginn ist nicht abzusehen. Nach einem Besuch von Mitgliedern der Regulierungsbehörde für den datenträgerlosen Datenaustausch bei einer Hannoveraner Computerzeitschrift stellt diese ihre Rubrik "Basteleien" ein.

1992: Der Politische Winter dauert an, die Rechentechnik macht jedoch Fortschritte. Der IBM Micro Office III kommt nun auch auf den deutschen Markt. Telefunken-Siemens zieht mit dem Heimrechner C nach. Ein großer Vorteil des TfS-C ist die integrierte DAU-Box, die nur noch von der Bundespost angeschlossen und freigeschaltet werden muss. Der TfS-C verkauft sich über 200.000 Mal. Beigelegt ist eine spezielle Software für datenträgerlose Briefpost (dBrief). Pro dBrief wird ein sogenanntes Mikroporto vom Vertragskonto des Nutzers abgebucht; je nach Umfang sind dies zwei bis sieben Pfennige. Insbesondere Firmen und Behörden sind von der Idee des dBriefs begeistert. Andere Anbieter schließen Lizenzabkommen mit Telefunken-Siemens und bieten nun ebenfalls Programme zum Versand und Empfang des dBriefs an. Adressiert wird der dBrief über die von der Bundespost vergebene Telefonnummer, eventuell ergänzt um interne Firmennetznummern. Während das militärische ARPA-Netz inzwischen fast alle Militärstandorte in den USA und in Übersee vernetzt, baut das Europäische Verteidigungsbündnis weiterhin auf die Nutzung des EuroDAU-Standards. Kommerzielle Anwender in den USA können sich an einem – teilweise vom Militär finanzierten – Programm beteiligen, dass den datenträgerlosen Versand von Mitteilungen erlaubt und ähnlich wie dBrief funktioniert. Hierbei wird allerdings kein Tarif pro Mitteilung eingesetzt, sondern eine monatliche flatrate für bis zu tausend dBriefe. Weitergehende Funktionen des Militärnetzes werden jedoch nicht zur Verfügung gestellt.

1994: Im Rahmen der stärker werdenden europäischen Integration wird der EuroDAU-Standard für Privatanwender und Firmen geöffnet. DBriefe können jetzt – gegen einen geringen Aufschlag – auch ins europäische Ausland verschickt werden und von dort empfangen werden. Wiederum dient die Telefonnummer als Adressierung. Die Postministerin der neu gewählten großen Koalition spricht in der Tagesschau von der "einfachsten Lösung" und gibt als Ziel vor, das bald alle Behörden, Universitäten sowie zwanzig Prozent der Bevölkerung per dBrief erreichbar sein sollen. Das dBrief-Logo findet sich in Werbeanzeigen vieler Firmen wieder und wird gerne genutzt. Ein Gesetz über die Rechtsgültigkeit des datenträgerlosen Datenaustausches (GRDau) macht den dBrief zum De-facto-Standard für datenträgerlose Kommunikation. Als Begründung wird dabei insbesondere die Identifizierbarkeit des Absenders genannt.

1995: In Ungarn kommt es erneut zu Aufständen. Trotz des offiziellen Fortdauerns des politischen Winters kommen auf Vermittlung der Bundesregierung sowjetische und amerikanische Vertreter in Fulda zu Gesprächen zusammen. Der "Fulda-Plan" sieht die Aufnahme politischer Beziehungen und die Ausweitung des Kulturaustausches innerhalb der nächsten fünf Jahre vor. Auf Drängen der Bundesregierung wird auch eine Reiseklausel verabredet. 1995 scheint sich zum Jahr wichtiger Entscheidungen zu entwickeln. Im Sommer wird in Paris die Gründungsakte der Europäischen Cooperation/Cooperation Europeen (EC/CE) hinterlegt und von den Regierungschefs der zwölf beteiligten Staaten unterzeichnet. Darin wird unter anderem eine weitgehende wirtschaftliche Liberalisierung vereinbart. Schon 1996 sollen auch in der Bundesrepublik private Fernsehsender zugelassen werden. Das staatliche EuroDAU-Monopol soll schrittweise bis zum Jahr 2000 abgebaut werden. Am MIT in Boston entwickeln eine Gruppe von computer scientists ein Verfahren, um im Rahmen der inzwischen auf 10.000 dBriefe pro Monat ausgeweiteten flatrate im amerikanischen Netz sogenannte Interaktionsangebote zu verwirklichen. Im Winter beginnen Gespräche über die Entwicklung von transnationalen Schlüsselpunkten für die Verknüpfung des amerikanischen mit dem europäischen dBrief-Netzwerks.

1996: Nicht zuletzt aufgrund der im Fulda-Plan verankerten Zugeständnisse kommt es in der Sowjetunion zu Zerfallserscheinungen. Die europäischen Satellitenstaaten der UdSSR inklusive der DDR nehmen Verhandlungen mit der EC/CE auf. Das dBrief-Bulletin des SPIEGELS titelt "Tauwetter – der Politische Winter ist zu Ende". Dass die CHH-Führungsriege freigelassen wird, ist den Medien dagegen keine Nachricht wert. Auch in Europa setzen sich Interaktionsangebote durch. Aufgrund der weiterhin gültigen Gebührenstruktur der Bundespost i.A. geschieht dies jedoch sehr viel langsamer als in den USA. Der neue Telefunken-Siemens Heimrechner F, TfS-F, kann nun erstmals auch Farbbilder anzeigen – bisher eine Domäne der Commodore-Spielkonsolen. Ein deutsches Fraunhofer-Institut entwickelt eine Methode, um derartige Farbbilder für den Versand als dBrief zu komprimieren. Schon für knapp 50 Pfennig lässt sich so ein Farbbild datenträgerlos verschicken.

1997: Die ersten echten Mobiltelefone erscheinen im Frühjahr auf dem Markt, ein europäisches Kooperationsprojekt, an dem unter anderem Telefunken-Siemens, die Bundespost i.A. und die British Telecom beteiligt sind. Die Mobiltelefon-Spitzenmodelle sind sogar in der Lage, dBriefe zu empfangen. Die Gespräche zwischen den Staaten des Warschauer Paktes und der EC/CE machen Fortschritte. Innenminister Otto Schily (SPD) bringt nach einem intensiven Gedankenaustausch mit dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, Egon Krenz, eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch innerhalb des Jahrtausends ins Gespräch. Im Herbst kommt es zu zwei wichtigen technischen Entwicklungen: die erste interkontinentale Versand- und Verrechnungsstelle für dBriefe nimmt ihren Betrieb auf. Aus EuroDAU wird das InterNet. NutzerInnen, die dBriefe mit dem amerikanischen Kontinentalnetz austauschen wollen, müssen sich bei der IVV registrieren lassen. Der Aufschlag für innereuropäische dBriefe wird auf 0,2 Pfennig reduziert, auch die Preise für nationale dBriefe sinken deutlich. Aufgrund der Inkompatibilitäten zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Abrechnungsmodell sind die Kosten für einen dBrief von Deutschland in die USA allerdings viel höher als für eine eMail aus den USA nach Deutschland. Es gibt spezielle Tarife für international tätige Firmen, den Behördenaustausch und wissenschaftliche Kommunikationen. Besonders kostspielig ist die Nutzung von Interaktionsangeboten auf dem jeweils anderen Kontinent. Hier bleibt es weitgehend bei nationalen Lösungen. Zu den Interaktionsangeboten zählt nun auch eine Namensvergabestelle – statt 040-1234567-9999 anzugeben, um das dBulletin des SPIEGELs abzurufen, reicht jetzt ein dBrief an die NVS (01901) mit dem Betreff "Spiegel". Neuste Version des dSchaufensters – weiterhin per klassischer Briefpost auf Diskette verbreitet – integrieren diese und ähnliche Angebote. Statt sich die Nummern einzelner Interaktionsangebote merken zu müssen, reicht jetzt ein Mausklick auf eine optische Darstellung. Das InterNet steht kurz vor dem breiten gesellschaftlichen Durchbruch. In Bonn wird für die Einführung der flatrate demonstriert.

1998: Bei den vorgezogenen Wahlen wird die große Koalition durch eine Koalition aus CDU/CSU, FDP und GRÜNEN abgelöst. Die wirtschaftliche Liberalisierung in der Bundesrepublik – aber auch in anderen Staaten der EC/CE – beschleunigt sich. Die Bundepost i.A. wird in die vier Aktiengesellschaften Telefonica, Postdienst, Postbank und Netzdienst zerlegt. Eine der ersten Handlungen der Netzdienst AG ist die Einführung der flatrate. Mit einer Novelle des GdDR werden nun auch nicht lizenzierte InterNet-Boxen zugelassen. Der Datenverkehr bleibt jedoch weiterhin Monopol des Netzdienstes (oder anderer Netzdienst-Firmen aus der EC/CE). Die Registrierungspflicht für Personalcomputer entfällt. Nicht nur die wirtschaftliche Liberalisierung, auch die innerdeutschen Gespräche werden beschleunigt. Eine der ersten Amtshandlungen des Außenministers Genscher ist ein Treffen mit DDR-Außenminister Gysi. Auf diesem Treffen wird beschlossen, einen Vereinigungs- und Liberalisierungsausschuss der beiden deutschen Staaten einzusetzen. Zielvorgabe für die Gründung einer gemeinsamen Föderation im Rahmen der EC/CE: der 1.1.2001.

1999: Es wird über Wahlen mit Hilfe von InterNet-Boxen diskutiert. Behördenangebote sind inzwischen auf breiter Basis auf Interaktions-Formularedienste umgestellt. Sinkende Hardware-Preise und die Marktliberalisierung im Netzbereich führen dazu, dass nun schon 40 Prozent aller Haushalte über dBrief-fähige Heimrechner verfügen. In bestimmten Kreisen wird es populär, Interaktionsangebote aus dem Ausland abzurufen. Rund um zusatzkostenpflichtige Interaktionsangebote entsteht eine ganze Branche, die Waren über das dBrief-Netzwerk verkauft, auf Interaktionsangeboten für andere dIAs wirbt, die Programmierung von Interaktionsangeboten übernimmt oder Flirtforen einrichtet. Insgesamt nimmt der Datenverkehr rapide zu. Auf der Europäischen Computermesse in Antwerpen wird der amerikanische Cisco-Military-Class-Switcher vorgestellt, der bis zu hundertfünfzig stehende dBrief-Verbindungen parallel bearbeiten kann. In politischen Debatten taucht zum ersten Mal der Begriff "Bandbreite" auf; die Netzdienst AG kommt mit dem Ausbau der Infrastruktur kaum hinterher. Es wird nach Lösungen gerufen, die Bandbreitenausnutzung zu optimieren. Einige Politiker bringen eine dBrief-Steuer ins Spiel. Dies wird als zu interventionistisch abgelehnt; da es keine anonyme dBrief-Nutzung gibt, lassen sich jedoch Warenverkäufe und kostenpflichtige Zusatzangebote, die über dIAs organisiert werden, gut identifizieren. Steuerhinterziehung ist so nicht möglich. Transkontinentale kostenpflichtige Zusatzangebote unterliegen dabei den regulären Zollsätzen.

2001: Im Rahmen der Gründung der Deutschen Föderation – die DDR wird letztlich wie ein zusätzliches Bundesland mit einem besonderen Autonomiestatus behandelt – wird auch das neue Bundesland "Mittel- und Ostdeutschland" an das dBrief-Netzwerk angeschlossen, ohne jedoch die schon bestehende Verbindung zum Netzwerk der hochkapitalistisch-libertären Russischen Republiken zu kappen. Damit wird es erstmals in Deutschland möglich, jenseits illegaler "Doppelkuppler" auf das RR-Netzwerk zuzugreifen und Angebote wie einen Anonymisierungsdienst zu nutzen oder jugendgefährdende Farbbilder abzurufen. Nach dem sogenannten Kinderpornoskandal, bei dem auf dem Bürorechner eines Bundestagsmitarbeiters belastende Farbbilder gefunden werden, wird diese Lücke jedoch schnell geschlossen. Im Bundestagswahlkampf im Winter 2001 warnt insbesondere die SPD davor, dass die zu schnelle und zu weitgehende Liberalisierung des dBrief-Verkehrs jugendgefährdend ist und zu einem Einfallstor für die russische Mafia werden könnte.

2002: Die schwarz-gelb-grüne Koalition ist trotz des populistischen SPD-Wahlkampfs mit knapp wiedergewählt worden. Der Schutz der Netze vor Pornografie und Kriminalität bleibt jedoch ein bestimmendes Thema, für das sich insbesondere die neue CDU-Jugendministerin Merkel einsetzt. Fischer löst Genscher, der sich nach seinem großen Erfolg zur Ruhe setzt, als Außenminister ab. Die Netzdienst AG gerät in Finanzschwierigkeiten und wird innerhalb eines Jahres verstaatlicht, in Form von drei regionalen Gesellschaften erneut privatisiert und aufgekauft. Die EC/CE bereitet eine Währungsunion vor. Ende des Jahres 2002 sind alle drei regionalen Netzdienstgesellschaften in den Händen ausländischer Netzdienstanbieter, Netzdienst Ost und Netzdienst Süd gehören nun zur britisch-amerikanischen ATT-BTT. Der Bundestag reagiert mit einer erneuten Novellierung der rechtlichen Grundlage für den datenträgerlosen Datenaustausch und ermöglicht – unter der Voraussetzung der Registrierung der NutzerInnen bei der Regulierungsbehörde – die Freigabe des Anschlusszwangs und damit erstmals einen echten Wettbewerb. Die Volumenpreise für dBriefe sinken weiter. Inzwischen können ganze Musikstücke im Netz gekauft und auf den Heimrechner heruntergeladen werden. Trotz des Rückstands in Mittel- und Ostdeutschland sind jetzt fast zwei Drittel aller Haushalte über mindestens einen Netzdienst-Anbieter registriert. Da die Interkonnektivität zwischen konkurrierenden Anbietern teilweise sehr schlecht ist, haben insbesondere größere Firmen inzwischen Konten bei zwei oder drei Netzdienst-Anbietern.

2003: Mit Ooogle (und dem Verb oooggeln) wird erstmals ein dIA zu einem gesellschaftlich wohl bekannten und weit verbreiten Begriff. Ooogle ermöglicht es, dIAs einfach in einem zentralen Register zu erfassen und dann nach Freitext zu durchsuchen. Insbesondere kleinere Firmen, die dIAs anbieten, sind froh, dass es jenseits der Netzdienst-Telefonbücher (nur Kleinsteinträge sind dort kostenlos) eine Möglichkeit gibt, im Netz auf ihr Angebot aufmerksam zu machen. Ooogle ist nach dem in Europa allerdings wenig verbreiteten Kleinanzeigendienst eBay die zweite "Selfmade-Firma", die im InterNet ganz groß herauskommt. Hinter Ooogle steckt eine Idee, die zu den dIAs der zweiten Generation gehört: dBrief-basierte Interaktionsangebote, die ihrerseits wiederum andere dIAs verlinken oder einblenden. Aus den USA schwappt zugleich die Welle privater Interaktionsangebote nach Europa. Die wirtschaftsliberale Regierung reagiert mit einer weiteren Liberalisierung der Netzgesetze. Erstmals ist es jetzt jedem dBrief-Nutzer und jeder dBrief-Nutzerin in Deutschland gestattet, eigene (allerdings nicht kostenpflichtige) Interaktionsangebote bereitzuhalten. Was bisher eine halblegale Domäne zwielichtiger Gestalten und Computerbastler war, die irgendwie dem CHH nacheifern wollten, wird nun zum Hobby ganzer Reihenhaussiedlungen. Auf Heimrechnern der neusten Generation ist jetzt oft nicht nur das Telefunken-Siemens dSchaufenster installiert, sondern auch der – mit Hilfe eines Kompatibilitätsmoduls auch in Europa einsetzbare – IBM Private Server. Viele haben ihn sich nicht mehr per CD schicken lassen, sondern direkt im IBM-dIA angewählt und dann datenträgerlos auf die heimische Laserplatte kopiert. Weniger bekannt wird, dass mit der Novellierung der Gesetze zwei weitere Änderungen verankert wurden: die Möglichkeit, per Verordnung der Regulationsbehörde festzulegen, welche Klassen von Inhalten in privaten dIAs straffrei anzeigbar sind, und die Möglichkeit für Netzdienste, nicht nur für den Abruf, sondern auch für die bevorzugte Bereitstellung von Inhalten Gebühren zu verlangen.

2004: Nachdem neben Kinderpornografie und Kriminalität auch Viren, die über zwielichtige Kupplungen in das InterNet eingespeist wurden, zum Wahlkampfthema gemacht wurden, gewinnt die SPD die Wahlen und kann zusammen mit den Mittelostdeutschen Patrioten (MOP) eine Regierung bilden. Unter Postminister Schönbohm grenzt die Netzregulationsbehörde jetzt sehr viel strenger ein, was auf privaten dIAs angezeigt werden darf. Jede Vorfüh-rung von Musik oder Video ist GEMA-pflichtig, regelmäßige Textangebote und Bulletins müssen mit einer ISSN-Nummer ausgestattet und als Zeitungsunternehmen registriert werden. Unter (auch) ausländische Patente fallende dIA-Programme dürfen nicht ohne Lizenz eingesetzt werden. Die deutsche dIA-Szene reagiert mit einem heftigen Aufschrei. Es kommt zu internationalen Solidaritätskundgebungen. "Geheime" dIAs werden eingerichtet, die nicht in Ooogle beworben werden und im offiziellen Telefonbuch des Netzdienstes nur als "private Seite" erscheinen. Wer die Zugriffskodes kennt und die entsprechenden Abfragen richtig beantwortet, findet hinter den Blümchentapeten von Fotoalben und Hobbypräsentationen illegale Szene-Bulletins, verbotene Texte, sogenannte "befreite" Programme zur Fernkopie auf den Heimrechner oder gar Musikangebote, für die garantiert keine GEMA-Gebühr entrichtet wurde. Das offizielle dIA erscheint sauber, und im Rahmen der EC/CE-Harmonisierungsverhandlungen wird das deutsche Modell auch in andere Länder exportiert. Neben russischen Angeboten werden bis auf weiteres auch keine Verbindungen zu chinesischen oder mexikanischen dIAs vermittelt.

2005: Eine eigens eingerichtete Abteilung des EC/CE-Polizeiverbundes, die Europäische InterNet-Polizei (EIPo) widmet sich der Suche nach illegalen und kriminellen dIAs. In Koope-ration mit Heimrechner-Pflichtupdates zur Erhöhung der Kompatibilität suchen Agentenpro-gramme nach illegalem Material auf den als dIA registrierten Heimrechnern. Mehr als fünftausend Haushalte allein in Deutschland werden durchsucht, Hunderte als "Hacker" verhaftet. Insbesondere die MOP profitiert politisch von der Aktion "Sauberes Netz". Ihre Umfragewerte steigen auf 38 Prozent. Neben der politischen Reaktion gibt es auch eine Reaktion der Netzdienst-Anbieter: diese einigen sich auf einen internationalen Standard zur Erhöhung der Interkonnektivität, führen aber zugleich ein Gebührenmodell ein, bei dem jetzt auch die Anbieter von dIAs zahlen müssen – nicht nur, wenn Rück-dBriefe versandt werden, sondern auch, wenn ihr Angebot transportiert werden soll. Vermarktet wird das ganze als intelligente Lösung zur effizienten – und zugleich sicheren – Bandbreitenausnutzung unter dem Titel "Netzautobahn". Private dIA-Anbieter schauen in die Röhre – neben der notwendigen Registrierung von Bulletins als Zeitungsangebot und den hohen Risiken beim Einsatz möglicherweise patentierter Verfahren kommen auf sie nun auch noch unkalkulierbare Kosten hinzu. Selbst Ooogle, das erst vollmundig damit gedroht hat, Klage gegen die Einführung der Netzautobahn-Maut zu erheben, lässt sich nach kurzer Zeit auf das Modell ein und zahlt bereitwillig Dollars und ECE-Euro an ATT-BTT und die anderen großen Netzdienst-Anbieter, um schnell präsent zu sein.

2006: Im InterNet der dritten Generation trennt sich die Spreu vom Weizen. Die Qualität und Übertragungsgeschwindigkeit der kostenpflichtigen Zusatzangebote ist hoch, selbst Bewegtbilder als Alternative zum Fernsehapparat können nun auf jedem dBrief-fähigen Gerät empfangen werden. Natürlich werden damit d-Mobiltelefone ebenso wie Heimrechner auch GEZ-gebührenpflichtig. Die Versandhausriesen, Fernsehgesellschaften, Zeitungsverlage und einige wenige InterNet-Gründungen wie Ooogle beherrschen die Szene. Wer eine innovative Idee hat, versucht diese von einem der großen InterNet-Anbieter aufkaufen zu lassen, um einigermaßen gute Übertragungsgeschwindigkeiten und Zugänglichkeiten sicherzustellen und den rechtlichen Risiken zu entgehen, die in EC/CE wie im amerikanischen Kontinentalnetz auf jeden Anbieter eines dIA zukommen. Es gibt Gerüchte über ein geheimes Untergrundnetzwerk, an dem die russische Mafia, aber auch internationale Terroristen beteiligt sein sollen. Einige behaupten, dass dieses Untergrundnetzwerke quasi unsichtbar über scheinbar ganz normale dBrief-Verbindungen laufen würde. Es setze illegale Kryptoverfahren und die sogenannte Steganographie ein. Andere wiederum sagen, dass für dieses Netzwerk Richtfunkverbindungen und geklaute militärische Hardware genutzt würden, dass es aber auch Doppelkopplungen zum InterNet gäbe, und Wege, um aus dem InterNet heraus derartige dIAs anzuwählen. Dritte schließlich meinen, dass sowohl die russische Mafia als auch Hackergruppen als auch Menschen aus der Autonomen Anarchistischen Bewegung jeweils mit ihrer eigenen Version von modifizierten Heimrechnern und Mobiltelefonen arbeiten, um sogenannte private Paketfunknetzwerke aufzubauen. Nichts genaues weiß man nicht, aber es gibt Gegenden in Großstädten – auch in der Deutschen Föderation –, in denen verdächtig oft die Funkmesswagen der Regulationsbehörde herumfahren. Da sei es doch besser, die preisgünstigen – und inzwischen sehr guten und schnellen – offiziellen Angebote zu nutzen, statt sich und andere (Viren!) durch Kontakte zum Untergrund und zu Schmuddel-dIAs in Gefahr zu bringen.

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