Ein Tag im Leben des Gregorius (23.03.1998)

2070 Jetztzeit. Gregorius von den Daten liegt noch im Bett und schläft. Das Bett ist echt(c) und stammt aus dem Frankreich vor der Revolution. Entsprechend wunderschick ist es verziert. Es hat den einen Nachteil, daß das Bett für einen Zweimetermenschen wie Gregorius etwas zu kurz geraten ist, aber es paßt zu seinem Stil. Zu niedrig in den Hierarchien seines Clans, um eigene Bedienstete zu haben, sind die zwei Zimmer seines Wohnkomplexes reichlich genug für einen Menschen wie Gregorius. Das eine Zimmer ist der Schlafraum. Hier steht das Bett aus dem alten Frankreich. Der Boden der Wohnung ist mit einem fast wie echt(c) aussehenden Eichenholzparkett ausgelegt, die Wände scheinen mit einer Blumentapete (blaues Muster auf weißem Grund) tapeziert zu sein, teilweise verhängt von schweren bordeauxroten Samtvorhängen, die mit Trodeln zusammengebunden sind. Gregorius hat das Glück, eine Dachwohnung erwischt zu haben - die Decke der Räume bildet jeweils eine mit golden angemaltem Stuck verzierte Kuppel, die echtes(c) Tageslicht hereinläßt. Diese Kuppel reagiert auf die Tageszeit und die Umgebungshelligkeit und paßt sich bei Bedarf an, indem sie transparenter oder lichtundurchläßiger wird. Nachts kann Gregorius den Mond, den Sternenhimmel und die Werbetafeln von C'cola und M'nalds sehen.

Es gibt noch zwei weitere Möbelstücke in diesem Zimmer - einen geräumigen Schrank, ebenfalls schon recht alt, und einen Stehpult, der um ein modernes Sichtgerät erweitert wurde. Das andere Zimmer ist genauso groß wie der Schlafraum, es dient bei Bedarf als Küche und als Empfangszimmer. Hier finden sich einige ausgewählte echte(c) Bücher in einer dekorativen Schauvitrine, ein Carpediem und der Teetisch. Auch hier scheinen die Wände zur Zeit - so sie nicht von den hier dunkelgrünen Samtvorhängen verhängt sind - ein unauffälliges, aber bezauberndes Tapetenmuster zu tragen; auch hier fällt das Licht des Tages durch die verzierte Kuppel. Die beiden Räume sind durch eine Tür getrennt. Im Schlafraum befindet sich übrigens - versteckt hinter einem Paravent - auch die Waschecke und die Tür zur winzigen Toilette.

Inzwischen hat Gregorius sich soweit besonnen, allmählich aufzustehen. Einige andere junge Männer seines Clans verbringen den Morgen damit, im einige Stockwerke tiefer liegenden Dachgarten sportliche Übungen zu vollführen - das ist etwas, was Gregorius gerne einmal verpaßt. An den Ruderwettbewerben nimmt er trotzdem regelmäßig teil.

Der Raum hat registriert, das Gregorius wach ist, und blendet sanft ein Fenster mit der aktuellen Uhrzeit - dargestellt in wie handgemalt aussehenden Ziffern einer antiken Digitaluhr - an die seinem Blick gegenüberliegende Wand. EIn Fluch darüber unterdrückend, wie spät es schon wieder ist, widmet Gregorius sich seiner Morgentoilette und kommt einige Zeit darauf, mit einem modischen Ausgehanzug angetan, im Empfangsraum wieder zum Vorschein. Sein Aufzug besteht aus hauteng anliegenden blauen Samthosen, einem leinenweißen Hemd, an dessen Manschetten die Tapetenmuster anfangen, ein kleines Spiel zu spielen, einer Weste mit der obligatorischen Tasche für den obligatorischen Zauberstab und schließlich einem aus einem wie Wollfilz wirkendem Stoff hergestellten superleichten und wetterundurchlässigen Gehrock, den er - jetzt zumindest noch - lässig offen trägt.

Beim Hausservice läßt Gregorius sich sein übliches Frühstück richten, das wenig später mitsamt seiner täglichen Post auf einem kleinem Tablett in der Durchreiche seines Küchenschranks bereitsteht. Nur noch selten bekommt ein junger Mensch wie Gregorius echte(c) Post auf echtem(c) Papier - dieses ist eine der seltenen Gelegenheiten. Die sorgfältig mit einem Füllfederhalter auf den kleinen Briefumschlag drapierte Schrift läßt sein Herz etwas schneller schlagen, obwohl er ähnliche Briefe in den letzten fünf Wochen bestimmt schon zwanzigmal erhalten hat, und selber ähnlich viele Briefe verfaßt hat. Aber er ist noch immer verliebt in Luciana - und jeder Brief versetzt in ob seiner Ungewißheit in einen kleinen Erregungszustand. So aber nimmt er erst einen kleinen Schluck der fast echten(c) heißen Schokolade, um dann mit aller Sorgfalt den Brief zu öffnen - eine Einladung, sich heute abend zum Rendezvous im Park zu treffen.

Gregorius und Luciana könnten es auch einfacher haben. Mit ein paar dahingesagten Worten, mit einem Wink des Zauberstabes würde sich die Wand bereitwillig 'öffnen', um ein Bildtelefongespräch abzubilden oder auch eine Präsenzsitzung zu visualisieren. Aber es ist gerade der besondere Reiz, sich kleine echte(c) Briefe zu schreiben, jeden Morgen bang auf eine Antwort zu warten, nicht zu wissen, wo im weiträumigen Wohnkomplex der andere seine Räumlichkeiten hat (auch das würde die Wand auf eine weitere schnelle Geste hin bereitwillig mitteilen) und die Termine in echt(c) auszumachen, statt das den Agenten der Terminkalenderprogramme zu überlassen.

Trotz allem wissen auch Luciana und Gregorius die Annehmlichkeiten der Wand zu schätzen. Und da Luciana - die etwas älter als Gregorius ist - sich zur Zeit dem Studium der Programmierkunst widmet, enthält ihr heutiger Brief auch eine kleine Überraschung - einen Zugriffscode, der Gregorius' Wand dazu berechtigt, eine ganz bestimmte Applikation aus Lucianas Datenraum zu kopieren und einmalig abzuspielen. Auch hier eine gewisse Ungewissheit - Gregorius weiß nicht genau, was diese Applikation anrichten wird, und nur sich sehr vertrauende Menschen sind in der Lage dazu, fremde Applikationen ausführen zu lassen, ohne vorher zu wissen, worum es sich handelt. Allzuleicht können auf diese Art und Weise Viren und andere Parasiten eingeschmuggelt werden; Programme, die die Rechenzeit der Wand solange räuberisch ausbeuten, bis die Routineprozeduren nur noch schleppend erledigt werden.

Soll Gregorius Lucianas Programmierkunst vertrauen und ihre Applikation starten? Er wäre sich da gerne sicherer, aber vorsichtig, wie er ist - und er ist jemand, der sich mit dem Programmieren überhaupt nicht auskennt, zur Zeit studiert er die angloamerikanische Literatur des späten 20. Jahrhunderts - fragt er erst einmal die Wand, ob er eine bestimmte Applikation nicht auch in einem geschützen Datenraum ablaufen lassen könne. Er kann, und kurz darauf verziert ein neuer Rahmen die Südseite des Empfangsraums. In diesem Rahmen wird er die Applikation starten, und weiter als bis an die Grenzen des Rahmens wird sie nicht kommen.

Die Applikation ist wunderbar - Luciana hat ein kleines Expertensystem programmiert, das Zugriff auf die alten DejaNews- und Gutenbergdatenbanken hat und so in der Lage ist, Geschichten zu erzählen, die fast, aber nicht ganz dem Sprachduktus eines gewissen zeitgenössischen Erzählers des 20. Jahrhunderts ähneln. Luciana wußte, daß Gregorius ein großer Bewunderer des Erzählstils dieses William Gibson ist, dessen Klassiker - wie den Neuromancer-Zyklus, die Idoru-Saga und die Virtual Lovestory - er erst vor kurzem gelesen und analysiert hat. Ihre Applikation kann nun zum Beispiel mit den Datenflüssen der Nachrichtenagenturen gekoppelt werden, um dann die Geschehnisse des Tages in der harten und rauhen Sprache eines Gibson wiederzugeben.

Luciana ist aber nicht nur sehr bewandert in der Programmierkunst, sondern sie weiß auch, wie sie Gregorius' Herz gewinnt. Listigerweise läßt sich diese Applikation nämlich tatsächlich nur einmal starten, und so muß Gregorius sich entscheiden, ob er sich das Vergnügen entgehen läßt, seine Nachrichten im Stile Gibsons wiedergegeben zu sehen, oder ob er den goldenen Rahmen offen läßt und so immer an Luciana erinnert wird - bis zu dem Tag ihrer fiktiven gemeinsamen Zukunft, an dem sie sich gegenseitige Zugriffsrechte auf ihre Datenräume zubilligen. Gregorius hofft, daß es eines Tages dazu kommen wird - vielleicht ist das Rendezvous heute abend schon der erste Schritt dazu.

Er beendet sein Frühstück, während er die Zeitung mit den wichtigsten Meldungen des heutigen Tages - nun in der Sprache Gibsons - überfliegt und sich bei einigen der bewegenderen Nachrichten Filme an die Wand werfen läßt.

Danach hat er eine eher unerfreuliche Unterredung mit seinem Tutor, zu dessen schlechten Sitten es paßt, daß er Gregorius nicht zu einem echten(c) Treffen einlädt, sondern versucht, die weiteren Studienpläne mit ihm kurz und bündig per Bildtelefonie zu diskutieren.

Nach diesem unerquicklichen Gespräch ist es Gregorius erst einmal nach einem Tapetenwechsel zumute. Mit einem Wink des Zauberstocks blendet sich seine Muster-Sammlung auf die Nordseite des Zimmers ein, und wenig später ist das blau-weiße Blumenmuster durch lindgrüne Tapeten ersetzt, auf denen pastellfarbene Rosen zu sehen sind.

Da Gregorius so spät aufgestanden ist, ist nun fast schon Mittagszeit; er könnte sein Mittagessen auch in seinem Privatraum einnehmen, da es aber den Gepflogenheiten seines Clans entspricht, sich mindestens einmal am Tag öffentlichen sehen zu lassen, begibt er sich zu einem kleinen nahegelegenen Restaurant. Während des vorzüglichen Essens unterhält er sich mit seinen Tischgenossen - die meisten kennt er zumindest vom Sehen - und tauscht zugleich die aktuellen Immunitätscodes seines Clans mit ihnen aus.

Nach dem Essen begibt er sich ins Postamt, um Luciana auf echtem(c) Papier eine kurze Mitteilung zukommen zu lassen, daß er am Abend in den Park kommen werde, daß ihn ihre Applikation hoch erfreut habe, et cetera.

Später am Nachmittag begibt er sich - es ist Frühling - zu dem kleinen Fluß, der einige Stockwerke tiefer am Wohnkomplex vorbeifließt. Er schaut den Fischen und den dahinflirrenden Wolken zu, um sich dann auf einer Bank am Ufer auf einem Stück Tapete - keine Tapete, aber ist das selbe Material wie die Wand - wieder seinem Studium der Literatur des 20. Jahrhunderts zu widmen und einige kleine Übungen niederzuschreiben. Als es anfängt, kälter zu werden, ist er damit schon ein ganzes Stück vorangekommen. Auf der Tapete blendet sich seine Uhr ein, um ihn daran zu erinnern, daß er heute abend noch eine echte(c) Verabredung hat; rechtzeitig genug, daß er sich noch für den Abend umziehen und gestalten kann.

Nach einem kurzem Zwischenaufenthalt zu diesem Zwecke in seinen Räumlichkeiten und einem Überfliegen der Nachrichtenzusammenfassung - es ist nichts passiert - geht er eilig noch an einer Drogerie vorbei, um dort einige der neuen maßgeschneiderten Drogen einzukaufen, die er und Luciana so sehr mögen, und eilt dann aufgeregt ihrem Treffpunkt im Park entgegen. Wir hoffen für die beiden, daß das Rendezvous nach seinen und Lucianas Wünschen verlaufen ist, und beenden diese Art einer Geschichte hiermit.

=== just a sort of a story ===


© 1998 Till Westermayer. Stand: 9.1.1999. Automatisch konvertiert durch html.exe. Kommentare, Beschwerden und Nachfragen bitte an Till We richten - Danke!