Szenarien: Ökohightech (10.03.1996)

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Die Sonne stand schon tief im Mittag, als Gide endlich mit dem Dösen ufhörte und aufstand. Lässig schlenderte er hinüber zu der Waschstelle, um sich die Zähne zu putzen und für den Tag gerüstet zu sein. Und nachdem er vorgestern endlich die defekte Leitung von seinem Haussonnenkollektor repariert hatte, konnte er sogar eine schöne warme Dusche nehmen, wie er es liebte.

Gide zog sich an und ging dann in die Küche, um nachzusehen, was denn noch an Eßbarem vorhanden war. Viel fand er nicht, aber es mußte für heute reichen. Morgen würde er zum Markt fahren, um dort die Nahrungsmittelvorräte aufzufüllen, und so lange mußte das, was da war, eben reichen. Sein kombiniertes Mittagsfrühstück bestand deswegen auch nur aus einer schon leicht trockenen Seele, heißem Schwarztee und einer Tafel Schokolade. Schokolade paßte eigentlich nicht so ganz an diesen Ort, aber sie war nicht das einzige, was hier nicht hinpasste, und Gide sagte sich immer wieder, daß es angenehmer sei, nach dem Theobromin in der Schokolade süchtig zu sein, als nach Alkohol oder Nikotin. Und so war sein Schokoladenvorrat meist sehr gut bestückt. Seine Lieblingssorte war Capuccino-Krisp, zum Frühstück heute tat es Vollmilch-Nuß aber auch.

Andere Sorten waren nicht mehr da, und der Weg in die Marktstadt war sogar mit dem Fahrrad unbequem und lang genug, daß er ihn nicht wegen einer Tafel Schokolade fuhr.

Die blauglitzernden Sonnensegel im Garten, die er durch das Küchenfenster sehen konnte, hatten im Lauf des Vormittags im Gegensatz zu ihm schon eine ganze Menge Arbeit geleistet und Sonnenlicht in Energie umgewandelt. So konnte er beim Frühstücken ohne Probleme seinen Stromspar-PC laufen lassen. Der war neben der Schokolade (und neben dem Telefon mit integriertem Faxgerät) das andere, was nicht ganz in die ländliche Aussteigeridylle hineinpasste. Der Kitzel zwischen seinem Low-Tech-Lebensstil und den paar High-Tech-Gerätschaften machte aber gerade den Reiz in Gides Leben aus. Es war für ihn die einzige Möglichkeit, gleichzeitig in der Einsamkeit dieser grünen Hügel zu leben, und den Kontakt zu den Informationswellen der großen Netze nicht zu verlieren.

Gide war nicht nur nach Schokolade süchtig, sondern auch nach Daten. Auch daran konnte er sich Überfressen; manchmal war die Informationsflut des Webs auch für ihn nicht mehr zu ertragen. Aber wenn er dann versuchte, ein, zwei Tage ohne seinen PC auszukommen, oder wenn er gar dazu gezwungen war, weil die gespeicherte Energie der Sonnensegel nicht mehr ausreichte, - dann überfielen ihn schon bald die Symptome des Datenmangels. Unruhig tigerte er in diesem Fall durch die drei Zimmer seines Hütte, lief im Garten immer im Kreis oder rannte bis zu den Hügeln. Heißhunger überkam ihn. Er starrte Löcher in die Luft, und Melancholie und Erinnerung machten schafften sich Platz in der ausgedörrten Landschaft seiner Gefühle. Er brauchte Information und Schokolade auch, um sich abzulenken von seiner privaten Traurigkeit und vom Elend dieser Welt.

Während er mit der einen Hand immer wieder Stücke von der trockenen Seele abbrach oder zum Teebecher griff, lag die andere Hand auf der Maus und dirigierte das Geschehen auf dem Bildschirm des PCs. Eine Stromleitung gab es nicht, nach hier draußen, aber eine Telefonleitung. Und über diesen Datenfeldweg strömte es nun wie nach langer Trockenheit. Er klapperte seine drei Lieblingszeitungen ab, klickte nochmal kurz bei der Nachrichtenagentur vorbei, um auf dem neusten Stand zu sein, und beendete schließlich Mittagsstück und virtuelle Zeitungslektüre, um nachzuschauen, was über Nacht in seinem elektronischen Briefkasten gelandet war.

Vielleicht war ja jetzt endlich der Brief dabei, auf den er schon lange wartete: Nein, ausnahmsweise nicht der langersehnte private, sondern der Arbeitsauftrag einer der Firmen, für die er hier als Multimediaingenieur arbeitete. Schon vor geraumer Zeit hatten sie ihm zugesagt, daß er den Auftrag bekommen sollte - ihm fehlten nur noch die genauen Daten, und die durfte er sich leider nicht selber holen, sondern mußte auf eMail warten.

Naja, irgendwie verstand Gide es schon, daß sie ihren Firmenrechner auf diese Weise vor unberechtigtem Zugriff schützen wollten - aber es wäre für ihn nicht weiter schwierig gewesen, den Schutzgürtel zu durchbrechen. Da er aber irgendwie seine Telefonrechnungen und die Lebensmittel finanzieren mußte, blieb er eben brav und wartete.

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