Ein Flug nach Terra Nostra (7.9.1997)

"Nostar dep 1702 port 003c"

Jemand musste sich vertippt haben. Eigentlich nur ein kleiner Buchstabendreher, harmlos. Wahrscheinlich verwendeten sie noch die alten Tastaturen, da passierte sowas häufiger. Warum ihm jetzt diese Gedanken durch den Kopf wanderten? Stimmte doch sonst alles, und auch Celin hatte ihm die Daten für Abflug und Port bestätigt. 17 Uhr, 2 Minuten, Port 3, Abschnitt c. Er war den unaufdringlich-aufdringlich blinkenden Hinweisschildern gefolgt, und stand jetzt hier, am Eingang zu Port 3. Er war mit der U-Bahn angekommen, zwei Stockwerke unter der Erdoberfläche. Überirdisch erhob sich das Gebäude als Fünfstern. In der Mitte die Wartehalle und die Geschäfte, und den ebenerdigen Ausgängen in die City. Alles erst vor kurzem gebaut und in Betrieb genommen. Die Fußböden überall in beruhigend-grau, Milchglaswände, Säulen und Verstrebungen in reinem Blau. Das Leitsystem war innovativ und leicht zu begreifen. Es war überhaupt kein Problem, vom U-Bahnhof hierher zu kommen, in die zweite Etage, zum richtigen der fünf Ports, die sich als ihrerseits fraktal verzweigte Kegelstümpfe gegen die Halle schoben.

Nun stand er hier, und zögerte, den Port zu betreten. War es wirklich nur der kleine Tippfehler auf dem Display, der ihn hinderte, weiterzugehen? Wieder und wieder blieb sein Blick hängen - 'Nostra' - 'Nostar' - es war so einfach. Eigentlich wartete er auf einen Routinetransport. Eine Geschäftsreise, ein paar Gespräche, die lieber nicht über Vidtel laufen sollten. Nicht sein erster Orbitflug. 'Terra Nostra', eine der zehn Orbitalstationen, noch relativ jung, aber jetzt schon einer der großen Finanzplätze. Anders als die ersten Stationen, die die Metapher eines einzigen großen Gebäudes verwirklichten, war Nostra als Stadt angelegt, mit Plätzen und Parks. Eine flache Scheibe, sich langsam drehend. Celin hatte ihm das Bild zugespielt.

Unerbittlich wanderten die Sekunden auf der Uhr neben dem Display. Die Zeiten kamen sich immer näher. Wenn er nicht bald den Port betreten würde, würde der Flug ohne ihn geschehen. Was ein ziemlicher Witz war, weil Celin den Flug extra für ihn arrangiert hatte. In Port 3 wartete ein 'Ufo' auf ihn. Eigentlich hieß das Ding natürlich nicht Ufo, aber so nannten sie es, alle. "Daewoo Individual-Orbiter Rex zz" stand auf den Ufos, aber das war völlig egal. Ein Ufo ist ein Ufo.

Er gab sich einen Ruck, und betrat Port 3. Sein Ufo war das einzige hier vorhandene, der Port war ansonsten leer bis auf eine rastlos den Boden pflegende Krabbe. Ein einziges Mal war er in einem der Großraumtransporter mitgeflogen, die die Urlauber in die Null-G-Freizeitparks brachten (und die Arbeiter und Arbeiterinnen zu den Null-G-Fabriken). Es war kaum auszuhalten gewesen. Lärm, Geschrei, Gestank. Er zog die Nicht-Anwesenheit nicht notwendiger anderer vor. Celin hatte alles arrangiert, und der seltsame Tippfehler verschwand aus seinem Aufmerksamkeitsfokus.

Bei seinem Eintritt in den Port hatte das Kontrollsystem registriert, daß er der erwartete Fahrgast für das Ufo in 3c war. Auf dem grauen Fußboden erschienen Pfeile, die ihm den Weg weisen sollten, und die hinter ihm wieder verschwanden. Sobald er sich dem Ufo genähert hatte, öffnete sich die Eintrittsschleuse, und eine kleine Treppe fuhr aus. Jetzt war alles Routine.

Der bequeme Sitz schloß sich um ihn. Ein Ufo konnte bis zu fünf Personen befördern; vier weitere Sitze um den Tisch in der Mitte mit den Vidtel- Bildschirmen blieben leer. Er hatte nur wenig Gepäck dabei, das war schnell in einem der Schließfächer verstaut. Ein akustischer Countdown hatte jetzt eingesetzt, über die Vidtel-Konsole liefen letzte Warnhinweise. Er kannte das schon, Routine. Pünktlich um 17.02 schloß sich die Eingangstür und die automatische Steuerung übernahm es, den Flug nach Terra Nostra durchzuführen. Damit hatte er nichts zu tun; menschliche PilotInnen waren für die komplizierten Atmosphäre-Orbit-Flüge schon lange verboten.

Bis zur Ankunft in Nostra würde es noch ein paar Stunden dauern. Viel Zeit also, die er im pastellfarbenen Inneren des Ufos zubringen würde. Er schaltete Celin auf das Vidtel-Display und bat um den Posteingang. Bis zur Ankunft würde er diesen durcharbeiten, ein paar Blicke in die aktuellen Tickermeldungen und Kommentare dazu werfen, vielleicht auch einen Film anschauen. Das Platz-Vidtel auf dem mittleren Tisch war relativ neu und bot eine unwahrscheinlich hohe Auflösung auf seinem etwa sechs Handflächen großen Display. Die Auflösung schien sogar besser als bei seinem privaten Vidtel zu sein. Vielleicht war es notwendig, sich mal um ein neues Gerät zu kümmern. Celin notierte das.

Das Ufo war wahrscheinlich eh Luxusklasse. Hoffentlich hatte Celin nicht zuviel dafür ausgegeben. Aber die Vorgaben für den Preis waren eigentlich hochprioritär gewesen. Wahrscheinlich brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Eine kurze Überprüfung würde dieses Problem beseitigen.

Ohne zögern blendete Celin den Preis (er war recht hoch, aber deutlich unter dem Limit) ein, und auch einige interessante Anmerkungen: Es mußte wohl in letzter Zeit zu einigen technischen Problemen mit den Ufos gekommen sein, jedenfalls war der Preis pro Flug rapide runtergegangen. Die Kurven erinnerten ihn an jemand, der etwas eigentlich unverkäufliches mit einem Maximum an Werbung auch nicht auf den Markt bringen kann und dann als letztes Mittel den Preis maximal reduziert. Und es betraff wohl nicht nur Daewoo-Ufos. Die Anmerkungen hatten ihn neugierig gemacht, und so blätterte er etwas durch die Datenlage für Orbitalflugpreise mit Individualufos. Noch vor ein oder zwei Monaten hätte er sich diesen "Dino Rex" - das schien die offizielle Abkürzung zu sein - nie und nimmer leisten können. Jetzt war der Preis massiv gefallen, und die billigeren Orbitaltransporter konnten inzwischen zu wirklichen Spottpreisen gebucht werden; teilweise waren sie inzwischen deutlich billiger als Mitflüge in den Großraumtransportern. Überaus seltsam.

Celin war so freundlich, sein Interesse an der Preisentwicklung für Ufos zu bemerken. Ungefragt schlug der digitale Agent vor, ein paar Zusammenfassungen der diesbezüglichen Wirtschaftsnachrichten einzuspielen.

Da gab es zum einen den Preisvergleich für Flüge zu den verschiedenen Orbitalstationen - offensichtlich war Nostra die einzige, bei der es zu diesem bemerkenswerten Preisverfall gekommen war. Zur Kenntnis genommen. Allmählich wuchs sein Unbehagen. Furcht? Doch nicht bei ihm.

Visionen des seltsamen Tippfehlers zogen es vor, laut schreiend durch die Kabine zu stürmen. Aber vielleicht war dieses Angstgefühl ganz normal beim Atmosphärendurchbruch. Sicherlich hatte er nur vergessen, daß es das letzte Mal ganz genauso gewesen war. Angestrengt versuchte er, sich daran zu erinnern.

Nicht drauf achten. Einfach weiterblättern. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja: Flüge nach Nostra bei Individualorbitern hatten einen ziemlichen Preisverfall erlitten.

Weiter zur nächsten Meldungszusammenstellung. Celin war so freundlich, die Überschriften der entsprechenden Nachrichten zu überreichen. Die einzelnen Artikel konnte er dann bei Interesse weiterverfolgen.

"Ungeklärtes Verschwinden" "Schon wieder fehlt ein UFO" "Stimmt was nicht mir Nostra" "SecDep der UN prüft nähere Umstände" "Nachmittagsflug in den Tod?!" "SecDep ergebnislos in UFO-Krise" "Das gleiche Ziel. Und der gleiche Startpunkt?" "Das UFO-Problem gelöst?"

Die Überschriften hatten nicht dazu beigetragen, seine Panik verschwinden zu lassen. Die letzte Meldung sah noch am erfreulichsten aus. Sie war nur ein paar Stunden alt. Vielleicht würde sie ihn aufmuntern. Vielleicht hatte er sogar eines der letzten Ufos zu dem günstigen Preis erwischt. Seine Geschäftsfreunde in Terra Nostra würden sich grün und blau ärgern.

Celin weigerte sich, die gewünschte Nachricht zu übermitteln. Die Fehlermeldung war unverständlich, irgendwas von wegen fehlende Zugriffsfunktionen oder so. Celins Wissen waren intelligente Suchalgorithmen für die Datenflut des Netzes. Über Relais mußte ein Zugriff auch hier im Raum möglich sein. Die Orbitalstationen hingen im Erdnetz, und auch die Ufos konnten sich während des Fluges einklinken. Vielleicht lag die Störung ja tatsächlich daran.

Celin weigerte sich auch nach dem zehnten Versuch noch, die Nachricht zu bringen. Er schlug vor, Kontakt mit seiner Serviceabteilung aufzunehmen, und weigerte sich dann, diesen Kontakt herzustellen. Nachdem das nicht klappte, versuchte er eigenhändig, Kontakt mit seiner Serviceabteilung aufzunehmen, um den Fehler in der Kommunikationsfunktion zu unterbinden. Er weigerte sich, diesen Kontakt aufzunehmen.

Die mitgeführten Anteil von Celin stellten fest, daß jeder Kontakt zum Netz zur Zeit verlorengegangen war, und informierten ihn darüber. Etwa zur gleichen Zeit meldete sich das Ufo auf dem Vidtel: Kein Kontakt zur Leitzentrale. Bis der Kontakt wiederhergestellt wäre, würde gewartet. Sagte es. Die Positionsanzeigen sagten aber etwas ganz anderes. Er beauftragte Celin, diese Differenzen mit dem Ufo zu klären.

Er wollte hier raus, und nach Hause, und der Weltraum da draussen war plötzlich so sehr existent, wie noch nie zuvor. Er saß hier, irgendwo zwischen Himmel und Erde.

Celin konnte leider nicht herausfinden, warum das Ufo log. Dafür hatte er es inzwischen geschafft, ein paar Bestandteile des vorhin bestellten Artikels aus irgendwelchen fehlgeleiteten Echokanälen zusammenzubasteln. Irgendwas von "menschliches Versagen", "Tabelle nicht korrekt", "Zusammenspiel mehrerer Faktoren", "Standardsoftware". Uhrzeiten: "17.00- 18.00" Zitatfetzen: "sagte, nur dieses eine Ziel sei betroffen gewes".

Die Panik wich einer großen Traurigkeit. Kontaktversuche mit seinem Anwalt, seinen Geschäftsfreunden, der Regierung, Celins Serviceabteilung, den Nachrichten, der Vidtel-Zentrale. Alle scheiterten. Ob er sich nur einbildete, daß das Pastelllicht langsam anfing, zu flackern und dunkler zu werden? Und die sich weiter rasch ändernde Positionsbestimmung? Celin meinte, in der bordeigenen Astronomiedatenbank des Ufos genug Informationen gefunden zu haben, um den Kurs des Schiffes zu berechnen. Er blendete eine dreidimensionale Darstellung der näheren Himmelskörper auf den Milchglasschirm, und zeichnete einen langen, langen, schnurgeraden neongrünen Tunnel mitten zwischen all den Körpern hindurch.

Celin hatte sogar die Ankunftszeit berechnet: Das Ufo wird in -32768 Stunden No star erreichen, die sternenlose Leere, bei gleichbleibender Geschwindigkeit.

ENDE


© 1997 Till Westermayer. Stand: 9.1.1999. Automatisch konvertiert durch html.exe. Kommentare, Beschwerden und Nachfragen bitte an Till We richten - Danke!