Die Namu-Viertel (30.11.2000)

Wer auch immer die Stadt Kal’Nagandir besucht, kommt nicht umhin, auch einen Abstecher in die Namu-Viertel zu machen. Überall ist Kal’Naganir für seine Namu-Viertel bekannt. Wenn davon die Rede ist, geht es meistens um den Trubel dort, die Hast, die Hektik, die Enge. Oder um es in den Worten der Reiseführer auszudrücken: „In Kals Namu-Viertel tobt das bunte Leben in seiner ganzen Vielfalt." Außerdem fügen die meisten Reiseführer noch hinzu, dass die bauliche Substanz in ihren Grundzügen mehrere hundert Jahre alt ist und in der Zeit der großen Furcht entstanden ist. Diese Viertel wurde nicht von uns Nagan geplant und gebaut, sondern von den Namu’h. Aber – und das ist weit weniger bekannt – interessant sind die Namu-Viertel auch aus einem weniger offensichtlichen Grund. Wer sich die Mühe macht, etwas tiefer zu graben, und nicht nur in dem Geröll der Reiseführer zu suchen, wird nach einiger Zeit herausfinden, dass die Namu eines der wenigen Gebiete sind, in dem noch heute Abkömmling der Namu’h leben.

„Ja und?", werden jetzt die ungeduldigeren unter den Zuhörenden fragen. In meinem Fall klang das so, wie es immer klingt, wenn kurz vor ihrer zweiten Häutung stehende Nagan quengelig mit einem Elternteil reden: „Wen interessieren – abgesehen vielleicht von einigen verrückten Anthropologen (oder Elternteilen) – denn heute noch die Namu’h? Und seien auch noch so viele Stadtviertel nach ihnen benannt! Was über die Namu’h wichtig ist, lernt doch jedes Kind schon in der Frühzeit: zweihundert Jahre des Schreckens und der Furcht, vor langer, langer Zeit, irgendwann einmal, aber wir, die Nagan, haben uns letztlich durchgesetzt. Punkt, fertig, aus. Gefährlich? Gefährlich können Namu’h heute nicht mehr sein, ohne ihre in der Luft hängenden Feuerstädte. Kurios? Etwa so kurios wie ein an den Flügeln gestutzter Suras. Auch sonst scheinen ja gewisse Ähnlichkeiten nicht zu übersehen zu sein, wenn den Abbildungen der Namu’h Glauben zu schenken wäre, ob in den seichten Geröllhalden der Reiseführer oder in den tiefen Schächten der Enzyklopädien. Dieselbe erdfarbene Haut, nur bei den Namu’h ohne Federn. Auch die Namu’h haben nur zwei Beine, genau wie die Suras, und laufen auch genauso komisch rum. Aber dafür können sie nicht fliegen – wie sollen sie auch, ohne Federn."

Obwohl meinen Kindern einige der großen Suras-Vögel vielleicht interessanter erschienen wären, war letztlich doch genug an Neugierde vorhanden, um einem Besuch der Namu-Viertel zuzustimmen. Schließlich ist es eine der Attraktionen Kal’Naganirs. Und mit etwas Glück würden wir auch tatsächlich einige der Namu’h sehen – seltsame Wesen, noch hastiger und hektischer als die Nagan aus diesen Vierteln, seltsam auf ihren zwei Beinen balancierend, seltsam papierdünn und seltsam unproportioniert, viel zu hoch. Wir stiegen also zu fünft in eines der hier überall auf Touristen nur wartenden Taxis, dass sich gemächlich in Bewegung setzte. Außerhalb der Namu-Viertel ist Kal’Naganir trotz ihrer Größe und Einwohnerzahl eine sehr ruhige Stadt, wo alle mit Bedacht und Sorgfalt ihren Geschäften nachgehen. Das mag mit dem Klima zusammenhängen – oft ist es hier so heiß, dass zu schnelle Bewegungen schnell Probleme bereiten. Nur in den besagten Vierteln scheint die Tendenz der Namu’h zu Hektik und Hast auch auf die dort – unter, dass muss auf jeden Fall dazu gesagt werden, nicht besonders förderlichen Bedingungen lebenden – Nagan übergegangen zu sein.

Nach einer halben Stunde Taxifahrt und einigen Höflichkeiten waren wir am Ziel des Ausflugs angelangt. Noch heute gibt es einen Wall, der die ganzen Namu-Viertel umfasst, und in dem einige Tore eingelassen sind. Vor dem wichtigsten dieser Tore standen wir jetzt, links und rechts von uns prunkvolle, breit dahingestreckte Bauten aus dem späten Epitan, kurz vor der Ankunft der Namu’h errichtet. Schon die Ansicht des Walls löste bei den Kindern ganz offensichtlich Erstaunen aus. Das kleinste, Chann, noch nicht einmal gehäutet, fing sogar an, auf der Stelle herumzuhüpfen. „Chann, lass das. Du wirst nicht sehen, was auf der anderen Seite ist, bevor Du nicht durch das Tor hier gehst." Das war Chnia, das älteste der Kinder, vorher noch quengelig und mit einem Mal fast schon erwachsen. – „Das ist aber soo hoch! Ich habe Angst, Chnichi." – Was Chnia allerdings nicht dazu veranlasste, sich erwachsen und ruhig um das jüngste ihrer Geschwister zu kümmern, sondern vielmehr zu einigen bösartigen Grimassen herausforderte. Es ist nicht einfach, eine Stadt mit vier Kindern auf einmal zu besichtigen. Gerade eine so ruhige Stadt wie Kal’Naganir bietet den Kindern wenig Möglichkeiten, ihren Bewegungsdrang auszuleben, jetzt, wo sie noch viel beweglicher und unruhiger sind als wir zweimal gehäuteten Nagan, die sich kaum noch vorstellen können, wie es ist, einen gelenkigen Kinderkörper zu haben und daran zu glauben, meterhohe Luftsprünge vollführen zu können.

Irgendwie schafften wir es schließlich alle, die Namu-Viertel zu betreten. Hier waren es dann nicht nur die Kinder: auch ich war erstaunt darüber, wie hoch hier die Namu’h-Bauten ragten. Die Gassen waren viel zu eng für Fahrzeuge, das war der Grund dafür, warum uns das Taxi vor dem Tor abgesetzt hatte, und aufgrund der hohen Bauten fiel auch kaum Licht auf den Grund. Dafür wimmelte es tatsächlich von emsig beschäftigten Nagan. Einige davon scheinen nicht nur die Hektik und Hast der Namu’h übernommen zu haben, sondern auch deren Angewohnheit, bunte Stoffstücke um ihren Körper zu wickeln. Wir standen also staunend da, hatten uns noch kaum in das Herz der Viertel vorgewagt, von allen Seiten vom Gewimmel bedrängt – und plötzlich fiel mir auf, dass in unserem Farbspektrum das junge Grün fehlte. Waren die Warnungen in den billigeren und überaus flachen Reiseführern doch gerechtfertigt, die von Kinderraub und Entführungen schrieben? Auf einmal kam es darauf an, viel zu viele Dinge auf einmal richtig zu tun. „Chnia – lauf mit deinen Geschwistern auf die andere Seite des Tores und warte da." Die beiden Kleinen waren kurz davor, in Tränen auszubrechen: „Nicht weggehen! Bei uns bleiben! Bitte, bitte …". Beide zerrten an meinen Hinterbeinen. Letztlich blieb mir nichts anderes übrig, als mit den beiden vor das Tor zu gehen und sie, in der wieder gewohnten Umgebung, zu trösten. Und Chnia – mit wankenden Herzen – damit zu beauftragen, Chann zu finden. An die Namu’h dachte ich dabei gar nicht mehr.

Draußen, vor dem Wall um die Viertel, waren Echne und Chrr schnell wieder munter und lebendig. Junge Nagan vergessen schnell, und die Süßigkeiten, die ich dort an einem Straßenstand kaufte, mögen das ihre dazu beigetragen haben. Allerdings wurden Eche und Chrr auch sehr schnell ungeduldig, und wollten wissen, wo Chnia und Chann wohl blieben. Auch ich machte mir große Sorgen, wollte aber mit den beiden nicht noch einmal in die Namu-Viertel hinein. Also blieb mir nichts anderes übrig, als hier zu warten, Echne und Chrr gut zuzureden, und es zu verwünschen, hier hingefahren zu sein und kein Mobilfon zu haben, wie es jetzt überall angepriesen wurde. Damit wäre es zumindest möglich gewesen, mit Chnia zu reden. Des Wartens überdrüssig, bat ich – den beiden Kindern zeigend, wie es richtig zu tun ist – Naganechnagan und Naganmatrhi, doch etwas Gutes für uns zu tun. Vielleicht hat es geholfen, die Gottheiten um Hilfe zu bitten. Jedenfalls erschien kurz darauf Chnia, eine gar nicht aus dem Viertel hinauswollende Chann nach sich ziehend – und, ich glaubte meinen Augen kaum, im Schlepptau der beiden war doch tatsächlich ein Namu’h! Das Namu’h schien noch nicht ausgewachsen zu sein, und um die Haut in der Farbe von Sandstein und Kies war tatsächlich Stoff gewickelt – unter herum im Grün junger Nagan, oben war es eher die Farbe, die der Himmel an regnerischen Tagen hat.

„Guck mal, ich habe ein Spielzeug gefunden! Und ich kann viel höher springen als das Namu’h! Und es darf gar keine Sanchis essen. Und es kann sogar reden. Kann ich es mitnehmen?"

Richtig reden konnte das Namu’h nicht. Aber zumindest war es in der Lage, einige Laute herauszustoßen, die Wörtern des Naga’Nagan ähnelten. Und wohl auch etwas bedeuten sollte. Erst dachte ich, dass das kleine Namu’h Chann etwas verkaufen wollte. Dann haben wir aber gemeinsam herausgefunden, dass es nur wissen wollte, ob Chann wiederkommen würde, um mit ihm zu spielen.

Das Namu’h hat uns dann noch zu einigen der interessantesten Stellen im Namu-Viertel geführt, immer munter auf seinen zwei Beinen wippend, wie ein kleiner Suras-Vogel. Und hat uns zu seinen Elternteilen geführt – es hat zwei, die kennen zu lernen ich so das Vergnügen hatte. Dabei konnten wir ganz nebenbei einen Blick in eine echte Namu’h-Behausung werfen: die Räume waren gar nicht so hoch, wie ich es erwartet hatte. Dafür waren die Türen sehr schmal. Und beim Anblick eines ‘sitzenden’ Namu’h begriff ich sogar, wozu die vierbeinigen kleinen Tische dienen, über die ich mich am Tag zuvor im Epitan-Museum gesehen hatte.

© 2000 Till Westermayer