Kein Ort (30.11.2001)

Stimmen durchziehen die Nacht. Es ist nicht einfach, hier einzuschlafen. Howvu ist schon wieder aufgewacht, aufgewacht von diesen Stimmen. In der Dunkelheit ist nicht zu erkennen, wo sie herkommen, aber Howvu weiß, dass hier viele tausend Leute sind. Als es noch nicht dunkel war, hat er die Holzwände gesehen, gerade zu groß, um noch drüberzuschauen, die die große Halle in viele kleine Zimmer aufteilt. Wie Vieh in einem großen Stall, war sein Gedanken. Mit ihm in diesem Zimmer liegen vielleicht zehn weitere Leute, aber es muss viele dieser Zimmer in der großen Halle geben, und Stimmen in fremden Sprachen durchziehen die Nacht. Howvu zieht sich seine Jacke über den Kopf und versucht, nicht auf die Stimmen zu hören, einzuschlafen. Er ist müde, den ganzen Tag über sind sie gelaufen, auf der Flucht, nur weg von Khandra. In der Dämmerung kamen sie dann zum Eingang der großen Halle. Hier standen uniformierte Menschen mit Waffen in den Händen. Howvu musste, wie alle anderen auch, seine Hand auf eine leuchtende Platte legen, und erst dann wurde er in die Halle gelassen. Sie passte nicht zum Umriss. Als er schon ein Stück weit in die Halle hineingegangen war, vielleicht war es einmal ein Bahnhof oder ein Flughafen, hörte er, wie wütendes Geschrei aufbrandete. Irgendwo hinter ihm. Wortfetzen. Du kannst hier nicht rein. Die Maschine sagt es. Howvu hat sich nicht umgedreht, er ist weitergegangen. Khandra gibt es nicht mehr. Sein altes Leben ist heute zuende gegangen. Er weiß nicht, wie es weitergeht, und er hört die Stimmen in der großen Halle, und, wenn er genau hinhorcht, das Geräusch von Regen auf dem hohen Hallendach. Der Monsun muss eingesetzt haben. Wenn er doch bloß schlafen könnte, diese Bilder vergessen. Die Hubschrauber, und die großen Flammen, da, wo vorher Khandra war. Howvu weiß nicht, was werden soll.

Als er das nächste Mal aufwacht, ist es Tag. Irgendjemand hat in angestupst, fremde Worte, aber er hört heraus, dass er jetzt aufstehen muss, wenn er noch etwas von der Suppe haben möchte, die jetzt verteilt wird. Das einzige Mal, dass es an diesem Tag etwas zu essen geben soll. Howvu möchte etwas von der Suppe. Er hat nichts mehr gegessen, seit sie von Khandra weggegangen sind. Er hat Hunger. Die Suppe schmeckt Howvu nicht, aber er isst sie trotzdem. Vernünftiger Junge, haben sie gesagt, zuhause. In Khandra, das es nicht mehr gibt. Howvu weiß nicht, ob seine Familie fliehen konnte, vor den Flammen, vor den Hubschraubern. Aber er weiß, dass er hier nicht bleiben möchte, in diesem Stall für Leute, mit übel schmeckender Suppe, einmal am Tag, und Stimmen in der Nacht. Draußen fegt der Monsunregen. Howvu sieht es, weil hier, wo die Suppe ausgegeben wird, ein Fenster in der hohen Wand ist. Der Regen draußen macht den Tag dunkel und kalt. Er fragt die Frau, die hier die Suppe verteilt, ob sie ihm helfen kann. Sie versteht ihn nicht, er versteht ihre Antwort nicht. Sie sprechen eine andere Sprache hier. Aber aus den Augen der Frau liest er, dass sie, die Flüchtlinge, hier nicht erwünscht sind. Dass es ihr leid tut um Khandra und die anderen Orte, dass aber hier bald wieder ein Bahnhof oder ein Flughafen sein soll, und kein Flüchtlingslager. Von dieser Frau kann Howvu keine Hilfe erwarten. Seine Suppe ist alle, aber sein Hunger ist nicht verschwunden. Er folgt den Leuten, die wieder in die einzelnen Zimmer verschwinden. Er weiß nicht mehr, in welchem Zimmer er heute nacht geschlafen hat, aber es spielt keine Rolle. Alles was er hat, trägt er mit sich.

Nachmittags spricht ihn ein Mann an, der festlich gekleidet ist. Kommst Du aus Khandra? Howvu weiß nicht, woher der Mann es weiß, aber er sagt ja. Der Mann spricht seine Sprache, aber er klingt komisch. Kummst Du us Khundru? So klingt er. Der Mann sagt, dass eine internationale Kommission aufklären möchte, was in Khandra passiert ist. Howvu versteht nicht alles, was der Mann sagt, aber er versteht, dass er aus diesem Flüchtlingslager weg kann, wenn er mit dem Mann mitkommt. Howvu muss wieder seine Hand auf die leuchtende Platte legen, bevor er hin-aus darf. Der Mann reicht den Menschen mit den Waffen ein Bündel Geldscheine. Als er den besorgten Gesichtsausdruck in Howvus Gesicht sieht, lacht er. Keine Angst, ich kaufe nicht Dich. Im Regen vor der Halle steht ein Jeep mit einer blauen Flagge. Der Mann steigt ein, und auch Howvu steigt in das Auto. Wo soll er auch sonst hin?

Howvu versucht, zu schlafen, während sie durch die Stadt fahren. Irgendwann hält das Auto an. Howvu sieht sich um, sie sind etwas außerhalb der Stadt, schätzt er. Ein Park mit einem großen Haus in der Mitte, die blaue Flagge weht davor, im Regen. Eine Frau mit einem großen Regen-schirm kommt dem Auto entgegen. Die Frau sagt etwas zu dem Mann, was Howvu nicht versteht. Schon wieder eine fremde Sprache. Die Tür des Jeep fällt ins Schloss, Howvu, der Mann und die Frau drängen sich unter den Regenschirm und eilen in Richtung Haus. Der Regen fällt heftig, Howvu fröstelt. Erst jetzt bemerkt er, dass die Frau eine Waffe an ihrem Gürtel trägt. Die Tür des Hauses ist aus Glas, sie öffnet sich, als die kleine Gruppe sich ihr nähert. Howvu hat schon einmal einen Supermarkt gesehen, dort war es auch so. Der Mann geht hinein, die Frau sieht ihn auffordernd an, winkt ihn hinein, faltet den Regenschirm zusammen und geht dann auch durch die Tür. Diese schließt sich wieder. Drinnen ist es warm. Howvu fühlt sich müde. Er spricht den Mann an, fragt, ob er schlafen darf? Der Mann sagt etwas in der fremden Sprache zu der Frau, diese zuckt mit den Achseln, erwidert etwas. Meinetwegen, sagt der Mann, wir müssen Dir aber bald einige Fragen stellen. Reicht es Dir, ein, zwei Stunden zu schlafen? Wenn der Mann es sagt, reicht das Howvu. Die Frau winkt ihm zu, sie spricht seine Sprache wohl nicht. Sie gehen eine Treppe hinauf und einen Gang entlang. Die Frau öffnet eine Zimmertür, das Zimmer ist wie in der Werbung. Es gibt auch ein Waschbecken. Howvu stillt seinen Durst und legt sich dann auf das große, weiche Bett.

Ein Klopfen weckt ihn auf, es muss später sein, weil es jetzt ganz dunkel ist. Die Tür öffnet sich, Licht fällt ins Zimmer, und Howvu sieht den Mann. Können wir Dir jetzt ein paar Fragen stellen? Howvu ist nicht mehr ganz so müde. Er folgt dem Mann, die Treppe herab, eine weitere Treppe hinab, in ein blau beleuchtetes Zimmer. Eine Fernsehwand nimmt eine Seite des Zimmers ein. Nicht nur der Mann und die Frau mit der Waffe sind hier, auch viele andere. Howvu macht sich nicht die Mühe, sie zu zählen. Setz’ Dich hierhin, wir wollen von Dir alles wissen, was in Khandra passiert ist. Wenn Du eine Frage nicht verstehst, frag’ nach, ja?

Howvu erzählt, und wird immer wieder von Fragen unterbrochen. Der Mann übersetzt; die anderen hier im Raum verstehen seine Sprache nicht. Es ist anstrengend, und immer wieder fragen die Menschen hier nach. Sie wollen genau wissen, was er in Khandra gemacht hat. Wie seine Familie gelebt hat. Wie er den Hubschraubern entkommen ist.

Während dieser Befragung lernen die Menschen einiges über Khandra. Aber auch Howvu erfährt einiges, was er noch nicht wusste. Dass Khandra eines von sieben, wie sie es nennen, Pilotprojekten war. Dass auch Orhan, Djellhandra und Kharhan nicht mehr sind, und dass die anderen drei von Hubschraubern umflogen werden, welchen mit der blauen Flagge der Weltorganisation, und anderen. Dass nur wenige aus Khandra entkommen sind. Dass seine Familie wahrscheinlich tot ist.

Howvu erfährt auch einiges, dass er nicht sofort begreift. Erst, als die Befragung vorbei ist, als sie ihm etwas zu essen gegeben haben, und als er wieder in das Zimmer zwei Treppen hinauf darf, und dort auf dem großen Bett liegt, und nachdenkt, kann er eins und eins zusammenzählen. Er hat Khandra früher nie verlassen, hat die Thenschi auf die Weide getrieben und wieder in das Haus der Familie gebracht. Nur zweimal war er in Orhan (dort hat er auch den Supermarkt mit der Glastür gesehen). In Orhan haben viele seine Sprache gesprochen, aber einige auch ganz anders. Bei seinem zweiten Besuch in Orhan, das es jetzt nicht mehr gibt, hat er auch das große Raumschiff bestaunt, ohne zu wissen, was es zu bedeuten hat. Howvu kannte in Khandra nur wenige Leute, die schon einmal in der Stadt waren. Sie erzählten zumeist sonderliche Dinge, sonderliche Dinge wie die Bilder im Fernsehen, Bilder in einer Sprache, die er nicht versteht. Jetzt wird im klar, dass es nicht nur der Unterschied zwischen dem eher dörflichen Khandra und einer richtigen Stadt wie Orhan ist, was ihn so müde und fröstelnd macht. Und so traurig. Der Unterschied, dem er jetzt ausgesetzt ist, ist einer zwischen Welten. Die Stadt, die Halle, das Haus mit der blauen Flagge und dem blauen Zimmer – all das sind nicht seine Leute, es ist nicht sein Es-sen, sie sprechen nicht seine Sprache, und sie haben keine vier Finger, wie er. Dann sind die Mär-chen doch war, die Großeltern erzählt haben, und über die die Kinder hinter vorgehaltener Hand lachten. Das Wrack eines Raumschiffs in Orhan, die schwarze Ruine, all das ergibt jetzt einen Sinn. Er gehört nicht hierher. Er kommt von einer anderen Welt. Und die meisten seiner Leute sind tot, ausgelöscht durch das Feuer der Speziisten, so haben die Menschen im blauen Zimmer sie genannt. Drei der Pilotprojekte – wie viele sind das? – sind noch am Leben, beschützt durch Hubschrauber mit der blauen Flagge. Viele tausend Kilometer weit weg, auf der anderen Seite dieses Planeten. Vielleicht tausend Leute, denen die Flucht gelungen ist, in der Halle. Alle anderen sind nicht mehr am Leben, sind zu Gh’n gegangen. Orhan war eine große Stadt mit vielen tausend Leuten. Wenn seine Biologie Tränendrüsen vorsehen würde, würde Howvu jetzt weinen. So starrt er ausdruckslos in die Dunkelheit, und versucht, nicht an Morgen zu denken.

© 2001 Till Westermayer