Fragmentarische Probleme mit deinem Lebensstil? (16.4.95)

Spätherbst. Entsprechend sah die Gegend auch aus. Die letzten tiefgefrorenen Blätter hingen müde an nebelumschwebten antrazithfarbenen Bäumen, über die Gräser und Büsche hatte sich ein pelziges Gefroste gelegt. Er lief den Feldweg entlang, hin zum Fluß, der an einigen Stellen schon eisige Schollen angesetzt hatte. Unflätige Worte durchfluteten seinen Kopf. Mehr dazu später.

Irgendwo, nicht ganz weit von der gerade eben beschriebenen Stelle entfernt, schwebten, etwas ungewöhnlich für diese Jahreszeit, rote Hummer durch die Lüfte. Die Hummer sahen so aus, wie Hummer aussehen, die gerade lange genug gekocht worden waren, um genießbar zu sein. Der einzige etwas irritierende Umstand daran war die Tatsache, daß diese Hummer niemals gekocht worden waren, daß die Hummer sich dieser Tatsache durchaus bewußt waren und auch sonst guten Mutes und bei vollem Leben durch die Lüfte rauschten. Diese Beschreibung wäre etwas unvollständig, wenn nicht noch hinzugefügt würde, daß die Hummer in einem relativ dichten Schwarm schwebten, der sich über eine Strecke von vielleicht zwanzig Metern ergoß.

Am Anfang materialisierten sich die Hummer wie am Rand einer Pixelgrafik, am Ende verschwanden sie ebenso. Die hummerdurchrauschte zwanzig-Meter-Luftlinie hing unveränderlich in einer Höhe von vielleicht fünf Metern über dem Erdboden fest.

Natürlich vermutet jetzt jeder, daß es sich hier halt um eine Projektion einer durchgedrehten Computeranimation in den Herbstnebel handeln würde. Doch das war es nicht. Die Hummer sahen nicht nur wie Hummer aus, sie fühlten sich auch so an. Einige Krähen, die diese Tatsache nicht glauben wollten, und die deswegen quer durch den Hummerschwarm hindurch geflogen waren, hatten das schmerzhaft und in einigen Fällen auch tödlich am eigenen Leibe erfahren müssen. Ein Beweis dafür waren die schwarzen Federn und zum Teil auch Krähenköpfe, die jetzt unter der Hummerluftlinie am Boden lagen und alle weiteren Krähen davon abhielten, diesen Teil der Herbstluft zu durchqueren.

Er rannte zum Fluß, so daß sich weiße Atemwolken bildeten, durch die er dann hindurchrannte. Das tut aber nichts zur Sache.

Eine lokale Fernsehstation, die natürlich die fliegenden Hummer als Sensation der verlängerten Sauregurkenzeit im Fernsehen brachte, versuchte, nachdem sämtliche Hummerexperten, Zoologinnen und Feinschmecker nicht zu Stellungnahmen bereit waren, ein Interview mit den Hummern.

Das Interview gestaltete sich nicht ganz einfach, da die Hummer doch mit einer beträchtlichen Geschwindigkeit vorüberbretterten, und da das Interview schließlich in etwa fünf Meter Höhe geführt werden mußte. Die Versuche, einen oder mehrere der Hummer zu fangen, blieben erfolglos und äußerten sich nur in schmerzhaften Schnittwunden sowie durchlöcherten Käschern.

Schließlich gelang es der Technikabteilung des Lokalsenders, einem der Hummer ein Funktelefon zuzuwerfen. Dabei stellte sich heraus, daß der Hummer nach dem Durchfliegen der zwanzig Meter nach einer genauso langen Zeitspanne wieder am Anfang auftauchte, was zu allgemeiner Erleichterung führte.

Das Interview mit dem Hummer ist im folgenden wörtlich wiedergegeben:

"Hallo, hier ist Linda vom Lokalsender. Wir interviewen gerade fliegende Hummer - schließlich herrscht derzeit eine gewisse, einer Sauregurkenzeit nicht unähnliche, Nachrichtenlosigkeit. Hallo Hummer, hören Sie mich?"

"Klar, kein Problem. Die Verbindung ist gut. Stellen Sie ruhig ihre Fragen."

"Die Frage, die unsere Zuschauer sicherlich am meisten interessiert, ist die folgende. Hören Sie mich noch?"

Der Hummer war gerade verschwunden. Es kam keine Antwort, schließlich materialisierte der Hummer sich wieder.

"Hören Sie mich noch?"

"Ja, natürlich. Sie waren gerade dabei, eine Frage zu stellen."

"Die Frage lautet: Warum und seit wann fliegen Hummer im Herbst durch die Luft?"

"Einfache Frage, einfache Antwort"

Der Hummer durchquerte gerade wieder die Materialisierungsschranke.

"Er wird sicherlich gleich wieder auftauchen. Liebe Zuschauer, bitte warten Sie einen Moment. Ja, da ist er schon wieder ..."

"Wir haben heute morgen damit angefangen, und es macht einfach Spaß. Ist mal was anderes als die ewigen Kochtöpfe."

"Aber Hummer können doch nicht fliegen? Nach Auskunft aller von uns befragten Experten ist es unmöglich, daß Hummer fliegen"

Der besagte Hummer hielt nicht viel davon, sondern verschwand schon wieder. Allmählich wurde es Linda zuviel, ein Interview mit einem ständig verschwindenden Gesprächspartner zu führen.

"Ihre Hummerexperten haben ihnen sicher auch gesagt, daß Hummer viel zu dumm sind, um sich Gedanken über Physik, Schwerkraft und dergleichen zu machen. Wir ignorieren das einfach."

Und weg war er. Der Hummer tauchte wieder auf, Linda ergriff die Gelegenheit, eine weitere Frage zu stellen:

"Nun gut, ich muß das so hinnehmen. Was empfinden sie beim Fliegen?"

"Ein wunderbares Gefühl, diese Geschwindig..."

Pause.

"...keit. Bessere Wirkung als so manche Drogen, und viel besser als gekocht werden. Die Batterie des Funktelefons geht im übrigen zu Ende!"

Mit diesen Worten warf der Hummer das Funktelefon Linda zu. Sie nutzte das, um das Interview zu beenden. Es würde für ein paar nette Minuten O-Ton mit hübschen, bewegten Bildern fliegender Hummer ausreichen. Ihre Zuschauerschaft glaubte eh alles, was sie sahen, egal, wie manipuliert die Bilder waren.

Der herbstliche Fluß indes wartete schon. Er wußte das und rannte geradewegs weiter, obwohl der spätherbstliche Feldweg dafür sicherlich nicht die geeignetste Unterlage darstellte, und obwohl dieser Feldweg sich inzwischen seinem Ende und dem Flußufer näherte.

Den Hummern war inzwischen anscheinend die Lust vergangen, ständig durch die selbe Gegend zu fliegen. Jedenfalls waren sie, bis auf ein paar schwarze Federn am Boden, nicht mehr zu finden. Die Leute in der Gegend nannten die Stelle später die Stelle, die Krähen aus was für Gründen auch immer nicht durchfliegen können. Niemand bis auf das Fernsehteam und zwanzig oder dreißig weitere Leute hatten die Hummer gesehen. Und nachdem Lindas Beitrag nicht gesendet wurde, da die Kommission für Quoten und Ästhetik einem roten Streifen nicht viel abgewinnen konnte, glaubten diese zwanzig bis dreißig Leute nicht daran, jemals diese Hummer gesehen zu haben. Schließlich war ja ein Fernsehteam dagewesen, und es wurde nichts gesendet, und Hummer waren auch keine mehr da. Außerdem war es unmöglich, daß Hummer fliegen können. Das bestätigte selbst einer der angesehensten Feinschmecker, als er eines Tages aus was für Gründen auch immer danach gefragt wurde.

Der Läufer aus dem ersten Absatz war gerade dabei, mit einem großen Sprung über den Fluß zu setzen. Wie weiße Funken stobte der Rauhreif auf. Der Läufer wußte nichts von den Hummern, hatte sie nicht gesehen und würde auch nie etwas davon erfahren. Dafür gingen ihm immernoch unflätige Gedanken durch den Kopf, was verschiedene, eigentlich recht belanglose Gründe hatte. Aber da dieser Text sich entschieden hatte, ein Text über fliegende Hummer zu werden, wird darüber nicht mehr berichtet werden.

Schließlich sprang er über den Fluß, rannte durch die Wiese weiter, erreichte sein heimatliches Bauernhaus (er hätte auch noch dreihundert Meter am Fluß lang laufen können, um dann eine Brücke zu benutzten und den asphaltierten Weg bis zur Einfahrt). Er stürzte sich in die Küche, aß keinen Hummer, auch der Herd war nicht angestellt (nein, damit sind seine Gedanken nicht zu erklären), öffnete einen Schrank, schloß ihn wieder, öffnete einen anderen Schrank - fieberhaft, sozusagen -, schloß auch diesen wieder, bis er in einer Schublade gefunden hatte, was er suchte.

Sein tragbarer Taschenfernseher war tatsächlich noch da, und nicht, wie er irrtümlich (vielleicht erklärt das seine Gedanken) geglaubt hatte, geklaut worden. Allerdings waren momentan die Batterien alle.

Beruhigt rannte er wieder zurück, um seinen Waldlauf fortzusetzen.

Es gab eine Frage, die Linda dem Hummer gerne noch gestellt hätte. Diese fiel ihr allerdings erst ein, als sie, was zugegebernermassen ein doch recht seltsamer Zufall war, da sie in ihrer Freizeit Kleptomanin war, in eben dieses leere Bauernhaus mit der nicht abgeschlossenen Gartentür einbrach und alles wertvolle bis auf einen anscheinend nicht funktionsfähigen Taschenfernseher mitnahm, um das ganze Gerümpel dann wenig später in einen einige hundert Meter tiefen See zu werfen, wie sie das üblicherweise tat, damit ihre Diebstähle nicht aufgedeckt wurden.

Bisher war sie mit dieser Methode auch recht erfolgreich gewesen, und die Frage lautet natürlich: "Haben sie Probleme damit, nur fragmentarisch hier aufzutauchen? Was geschieht eigentlich, während sie nicht da sind?"

Er bekam übrigens nie mit, daß seine gesamten Wertsachen, wie sie im Sportunterricht genannt werden, von einer heimlichen Kleptomanin, die im Hauptberuf Fernsehmoderatorin war und Linda hieß, geklaut wurden. Ganz abgesehen davon, daß er eher auf die in der Gegend üblichen bewaffneten Räuberbanden getippt hätte, starb er an Altersschwäche während des Waldlaufs, nicht unweit von der Gegend, in der die Hummer bewiesen hatten, daß Hummer fliegen können. Wobei dieses Fliegen vielleicht eher vogonisches Schweben genannt werden sollte, und er im übrigen schon weit über achtzig war.

Linda wechselte übrigens bald darauf ihren Beruf. Das hing mit der nicht beantworteten Frage zusammen, die ihr erst so spät eingefallen war. Sie wurde nach einem erfolgreichen Zweitstudium Psychologin. Ihre Diplomarbeit schrieb sie zum Thema "Der Hummer als Symbol im Rahmen der Freud'schen Traumtheorie", ohne jedoch daran zu denken, daß dieser Hummer gewissermassen der Anfang vom Ende ihrer sicherlich glänzenden Karriere als kleptomanische weltbekannte Lokalreporterin gewesen war. Sie dachte bei der Wahl des Themas vielmehr an einen Traum, den sie einst in einem Alter hatte, in dem sie noch im Sandkasten spielte, und den sie nie wieder vergaß. Später erkannte sie, daß dieser Traum, in dem neben Fischen und vor allem Schlangenaalen insbesondere auch Hummer eine Rolle spielten, ursächlich verantwortlich für ihre Kleptomanie war.

Um dem Betreff gerecht zu werden, sei hier nur verraten, daß mehr über Lindas weiteren Lebensweg ebenso wie über die Biographie des Läufers oder die Weltreisen der schwärmenden Hummer nicht gesagt wird.

(ENDE)

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