Gastmahl für den Erdtroll (02.10.2001)

Schon seit Tagen regnete es. Der warme Regen eines schönes Spätsommers und die damit verbundenen bunten Farben waren inzwischen dem tristen Grau einer nicht enden wollenden Wolkenfront gewichen. Früher hatte sich Tari immer gedacht, dass ein solches Wetter vielleicht ganz prima sein könnte, jedenfalls dann, wenn nichts und niemand einen dazu zwang, ein gut geheiztes Zimmer mit netten Schmökern und gerne auch ein wenig Kerzenlicht zu verlassen. Inzwischen war Tari in dieser Situation – seine Abschlussarbeit hatte er vor zwei Wochen abgegeben, bis zu den Prüfungen waren es noch Monate. Sofern eines der üblichen Studentenzimmer, im dritten Stock eines auch nicht mehr neuen Hauses direkt an der Hauptverkehrsader gelegen, als gemütlich durchgehen konnte, war es das. Er hatte jedenfalls sein bestes dazu getan.

Während es draußen regnete, fand Tari sich also in der mehr oder weniger glücklichen Situation wieder, den Regen im Zimmer genießen zu können, ohne etwas tun zu müssen. Statt zu lesen, hatte er den Fernseher eingeschaltet – das blaue Licht war zwar kein guter Ersatz für Kerzen, aber irgendwann musste auch er ja schließlich einmal erwachsen werden, oder? Eigentlich interessierte ihn das Fernsehprogramm nicht besonders, aber es war relativ einfach, in eine Decke eingekuschelt – das mit der Heizung klappte nicht so ganz – irgendwelche kurz nach dem Hinsehen schon wieder vergessenen Spielfilme zu schauen als sich jetzt über irgendetwas Gedanken machen zu müssen.

Während er noch darüber nachdachte, ob er jetzt endlich das warme Bett verlassen sollte, um sich etwas zu Essen zu machen, klopfte es an seiner Zimmer- und zugleich Wohnungstür. Irritierend – den eigentlich gab es unten im Haus eine meist fest zugeschlossene Haustür. Und andere Bewohner des Hauses würden – da war Tari sich sicher – die an der Wohnungstür angebrachte Klingel nutzen, und nicht klopfen. Das Geräusch wiederholte sich, nicht aggressiv, aber beständig, fast rhythmisch.

»Ich komm ja schon!«, mehr zu sich selbst gemurmelt als laut gerufen, sprang Tari aus dem Bett und die drei, vier Schritte zur Tür, dabei vorsichtig darauf achtend, keinen der Bücherstapel umzuschmeißen, die noch immer darauf harrten, zur Bibliothek zurückgebracht oder in Regale einsortiert zu werden – wenn der Regen aufgehört hat. Auch als er direkt vor der Tür stand, klopfte es weiterhin. Irgendetwas, vielleicht eine Eingebung, hielt ihn davon ab, die Tür aufzureißen. Stattdessen machte es sie vorsichtig nur einen Spalt auf, und spähte erst einmal hinaus. Der Regen und die damit verbundene Düsternis taten ihres dazu, den Hausflur lichtleer und dunkel wirken zu lassen. Tari war sich nicht sicher, ob er überhaupt etwas sehen konnte. Graue Schemen in grau. Die einzige Beleuchtung war der noch immer laufende Fernseher, was aber nicht ausreichte, um den Hausflur zu erhellen. Das Klopfen hatte zumindest aufgehört.

Es dauerte eine Weile, bis sich Taris Augen genügend an die Dunkelheit gewöhnt hatten, um etwas zu erkennen. Hier vor der Tür stand tatsächlich jemand – oder etwas? Das Wesen war nicht besonders groß, vielleicht ein Meter fünfzig, wirkte dafür aber breiter als gewöhnliche Menschen. Irritierend war auch der am ganzen Körper klebende, tropfnasse Pelz. Vor der Tür hatte sich schon eine Wasserlache gebildet. Das tropfnasse Wesen sah aus dunklen, traurigen Augen Tari an. »Na endlich macht mal jemand die Tür auf! Ich wohne im Keller, der ist überschwemmt, und jetzt brauche ich dringend einen warmen Ort!« Mit diesem Satz war es auch schon durch den Türspalt geflitzt. Der plumpe Körperbau hatte Tari ganz und gar nicht auf diese Geschwindigkeit und Gelenkigkeit vorbereitet. »He, warte – wer bist du überhaupt, was soll das!?«

Das Wesen reagierte auf diese Fragen nicht. Es hatte sofort Taris Decke erspäht, hatte sie sich geschnappt (ohne auf die Bücher zu achten, einige Stapel stürzten prompt ein) und war nun dabei, sich methodisch trocken zu rubbeln. Erst als das Wesen damit fertig war, warf es die nun nasse Decke in eine Ecke des Raumes, machte es sich auf dem Bett gemütlich, blickte zu Tari, der immer noch fassungslos an der Tür stand, und guckte ihn mit jetzt nicht mehr ganz so traurigen, großen dunklen Augen an: »Ein Erdtroll, um deine erste Frage zu beantworten. Wer sollte auch sonst im Keller wohnen? Was ich mache? Der Keller ist voll mit Wasser gelaufen – wahrscheinlich hat mal wieder niemand die Rohre gereinigt – und deswegen habe ich nach einem trockenen Plätzchen gesucht. Jetzt, wo ich es gefunden habe, konnte ich mich endlich mal wieder trocken machen«, dabei zeigte es auf die nasse Decke, die Simmels Werke getroffen hatte, »und mich so vor einer sonst sicheren Erkältung schützen. Dieses Wetter hält ja niemand auf Dauer aus!«

Es dauerte eine Weile, bis Tari eine Antwort auf diese Selbstsicherheit einfiel. »Ich, äh, habe noch nie einen Erdtroll getroffen. Um ehrlich zu sein – ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Seit wann wohnst du schon im Keller? Und was machst du sonst so?«

Munter, trocken und allmählich hungrig werdend beantworte das Wesen all die neugierigen Fragen, die Tari ihm stellte. Der mochte erst gar nicht glauben, dass der Erdtroll tatsächlich schon seit so knapp siebzig Jahren in diesem Keller hauste, dass das Haus davor netter gewesen sei, dass er die letzten paar Jahre verschlafen hatte und erst durch den Regen (und durch den Hunger, aber davon redete er nicht) geweckt wurde. Außerdem behauptete der Erdtroll, dass Erdtrolle eigentlich extrem menschenscheu und vor allem nachts aktiv seien. »Das Rumpeln hast du doch sicher schon mal gehört, oder? Irgendwie müssen wir uns ja auch vermehren, nicht wahr?«

Die wahrheitsgetreue Auskunft Taris, dass er erst seit zwei Jahren in diesem Haus wohne, und dass er demgemäss noch so gut wie gar nichts vom Erdtroll mitgekriegt habe, akzeptierte das Wesen gelangweilt. Tari hatte den Eindruck, dass es eigentlich schon seit einer ganzen Weile in eine ganz andere Richtung schielte. Dort drüben in der Ecke standen seine Nahrungsvorräte. »Du hast Hunger? Bedien’ dich!« – schließlich hat man ja nicht alle Tage einen Erdtroll zu Gast.

Der ließ sich das nicht zweimal sagen. Im Nu war alles – von den Schokoriegeln über das schon etwas angegammelte Obst bis hin zu den drei Packungen Nudeln – aufgefressen. Irgendwie hatte Tari danach den Eindruck, dass der Erdtroll noch nicht so ganz satt sei. Die Zähne des Erdtrolls – die er ausgiebig bewundern konnte, während die Schokoriegel im Stück verschlungen wurden – waren jedenfalls durchaus eindrucksvoll, wenn auch nichts sehr gepflegt.

»Danke für die Vorspeise. Ist das auch was zu essen?« Das pelzige Wesen deutete auf den nächstliegenden Bücherstapel, der eigentlich schon seit drei Tagen wieder in der Bibliothek sein müsste. »Nein, um Himmelswillen, das sind Bücher, die gehören nicht mir, und essen kann mensch die auch nicht!«, konnte ein entsetzter Tari noch rufen, aber da hatte der Erdtroll auch schon einen dickleibigen soziologischen Theoretiker in maximal fünf Happen verschlungen. »Schmeckt ein bisschen staubig, aber ganz nahrhaft. Hast du was zu trinken?« Schlafwandelnd stellte Tari den Wasserhahn an. Praktisch, dass hier alles in seinem Zimmer so nah beieinander war. Wie eine Katze – oder eher wie ein Hund? – schlabberte der Erdtroll am Wasserstrahl. Vielleicht sollte er wenigstens seinen Fotoapparat holen und ein paar Beweisfotos aufnehmen. Den Erdtroll daran hindern zu wollen, sich durch Systemtheorie und Funktionalismus durchzufressen, war ein aussichtsloses Unterfangen. Der Fotoapparat lag griffbereit, und auch von den Blitzen ließ sich der Erdtroll nicht stören. Nur einmal blickte er auf – eine Blätter Luhmann (Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2) noch in den Pfoten – und fragte, ob es gewittere, es habe gerade geblitzt. Es fürchte sich vor Gewitter!, aber mehr vor dem Donner. Als jedoch kein Donner kam, setzte der Erdtroll sein Werk fort, und war erst satt, als er Luhmann und Parsons komplett und den Stapel mit den marxistischen Klassikern und der kritischen Theorie – Tari hat versucht, seine Theorie möglichst weit abzusichern – zur Hälfte in seinen Rachen gestopft hatte.

»So, satt gegessen, trocken, schön! Dank für die Gastfreundschaft, ich lege mich jetzt schlafen.« So schnell, wie er hineingehuscht war, verschwand der Erdtroll wieder aus Taris Zimmer, ohne jemals danach wieder gesehen worden zu sein. Tari war zwar froh darüber, nicht selbst zur Nachspeise erklärt worden zu sein, stand jetzt aber in einem deutlichen Chaos als noch vor einigen Minuten da. Mehr als die Hälfte der Büchereibücher war aufgefressen, einzelne halbangebissene Seiten hingen noch aus Adorno heraus, andere waren im Zimmer verstreut. Der Simmel-Stapel (die Decke!) hatte sich mit Wasser vollgesogen, und seine Lebensmittel waren auch weg, bis auf die im ohnehin leeren Kühlschrank.

Natürlich wollte weder die Universitätsbibliothek noch die Versicherung Tari etwas glauben. Ob er es nicht auch für etwas unverschämt halte, sich einen derart großen und gefährlichen Hund als Haustier zuzulegen, und sich dann zu beschweren, dass die wild auf dem Boden liegenden Bücher angeknabbert würden? Zahle er überhaupt Hundesteuer dafür? Das waren die einzigen Kommentare zu den Fotos – die eigentlich recht gut geworden waren. Tari blieb nichts anderes übrig, als das teure Gastmahl für den Erdtroll aus seiner eigenen Tasche zu bezahlen. Immerhin hatte sich erwiesen, dass Soziologie durchaus ein nahrhaftes Feld darstellt. Schlimmstenfalls – so sagte er sich – konnte er immer noch Erdtroll werden. Aber vom Regenwetter hatte er jetzt erst einmal mehr als genug.

© 2001 Till Westermayer