Engedan (7.7.95)

Zwischen zwei Bäumen, deren lange grüne Zweige bis zum Boden reichten, saßen sie auf einer Bank. Die Luft flirrte vor sommerlicher Hitze, die Ozonwerte waren sicherlich wieder in die Höhe geklettert. Seit gestern herrschte Ozonalarm. Die idyllische Szenarie hier ließ sie vergessen, wo sie sich befanden. In einem Park. In einer Großstadt. Nur wenige dutzend Meter von der neugebauten Stadtautobahn entfernt, über die täglich tausende von Autos brausten, ein Moloch, der nicht unweit von hier im Boden versank, um sich zu einem unwirklich erscheinenden Tunnelsystem aufzufächern. Sie waren erst wenige Male in diesen Tunneln gewesen, künstlich taghell erleuchtet, grauer Beton, der einem das Gefühl von amerikanischer Wüste gab und sich unheilvoll über ihren Köpfen zu einem geschlossenem Bogen neigte. Aber sie saßen jetzt auf dieser umbaumten Parkbank und dachten an etwas anderes.

Nicht an die schwer kranken Bäume, nicht an den Rasen, der jetzt noch grün war, aber wohl schon in wenigen Tagen das neuerdings übliche schmutzige braun-gelb annehmen würde. Nicht an die vor kurzem aufgekommene Sitte, vor der Sonne zu warnen. UV-Strahlung. Hautkrebs. In einigen der weniger niveauvollen Blättern klang das so, als ob demnächst die ganze Stadt in das unterirdische unheilvolle Tunnelsystem umziehen müsste. Mitten im beinahe vierzig Grad heißen Sommer hätte eine kalte Faust ihre Herzen ergriffen und minutenlang angehalten. Wenn sie jetzt daran denken würden. Doch sie dachten an etwas anderes, eng aneinandergelehnt. Von ihrem Baumversteck aus hätten sie einen großen Teil des Parks überblicken können, wenn sie gewollt hätten. Sie wollten nicht.

Sie sahen nur sich. Darüberhinaus nahmen sie das Baumidyll war, das angenehme Meeresrauschen, das in Wahrheit von der Autobahn herrührte. Die Schreie der gequälten Enten und Schwäne in den Wasserspielen klangen nach Natur und fügten sich nahtlos in ihr Bild der Umgebung ein. Sie nahmen nicht war, wie alte Menschen lastenvoll und verrückt nach der Wahrheit suchten. Sie nahmen nicht war, wie die in Scherben zerbrechenden Flaschen alkoholischer Getränke klangen. Sie nahmen nicht war, wie Polizisten einen verdächtig aussehenden Harmlosen abführten. Sie nahmen sich wahr. Liebe in der großen Stadt.

[Wenn dies ein Märchen wäre: Sie sahen sich in die Augen, und ihre Liebe strömte durch den ganzen Park. Eine gute Fee wurde von dieser unendlichen Liebe angezogen, flog ein bischen nach hier, flog ein bischen nach da und kam schließlich an den beiden vorbei, bemerkte sie und fragte nach drei Wünschen. Den ersten Wunsch nahmen sie für sich. Und weil sie häufiger in den niveauvolleren Blättern lasen, wußten sie um den Zustand der Welt. Dafür beanspruchten sie die nächsten zwei Wünsche. Sie heirateten und lebten glücklick bis zu ihrem Ende im Märchenland.]

Sie sahen sich an. Aus ihnen beiden konnte nochmal etwas werden. Es gab da so Gefühle, die einfach stimmten. Vielleicht sollten sie eine Wette abschliessen, eine Wette mit der Zukunft. Der Einsatz war ihr Leben, und es ging darum, ob ihre Beziehung vor dem Weltuntergang zuende ginge oder erst danach. Eine verrückte Idee, aber verrückte Ideen waren das einzige, das sie dieser Welt, von der sie sich einbildeten, sie nicht wahrzunehmen, noch entgegensetzen konnten. Es war nicht ihre erste verrückte Idee. Sie gaben sich noch einen Kuß und machten sich dann auf, auf den Weg durch den dornenreichen Stadtpark.

Der Nachrichtensprecher hatte schon recht: Es war sinnvoller, bei diesem Wetter nicht im Ozon draußen zu baden. Sie waren so verrückt, es doch zu tun, aber sie waren noch vernünftig genug, rechtzeitig damit aufzuhören und ins Innere zu gehen. Es war noch zu früh, um zu sterben, und sie wollten nicht so enden wie die Leichen am Wegesrand, arme Asthmatiker, die sich nicht an die Warnungen gehalten hatten, oder Menschen, deren Immunsystem es einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Die Sirene des Notarztwagens passte sich allerliebst ein in das Geschrei der Teichvögel und das Rauschen der gigantischen Autobahn.

Ja, es war Spott, aber was blieb ihnen denn noch? Sie waren unzufrieden mit einer Welt ohne Morgenröte, und es waren nicht ihre Fehler. Sie aßen oft Lebensmittel aus dem Naturkostladen. Sie versuchten, glücklich zu sein, stark und seltsam. Dazu mußten sie fast überall den Rest der Welt ignorieren. Wo gab es denn noch eine Blumenwiese nur für sie oder eine Kerzenflamme, die nicht schuld an der Klimakatastrophe war? Sie suchten nach Freiheit ohne die dräuende Verantwortung, als Erbe einen Planeten mitzubekommen. Sie suchten nach Romantik, ohne dabei an stillgelegte Industriebrachen denken zu müssen, wo alles überwuchernde Triebe schnellwachsender Pionierpflanzen den Eisenbahnschotter und die verrostenden Maschinen und zerbrochenen Glasfenster in den verfallenden Backsteingebäuden überdeckten. Sie suchten nach Liebe, ohne an die Statistiken der psychosozialen Beratungsstellen denken zu müssen. Vielleicht würden sie morgen in einer anderen Welt aufwachen. Vielleicht würden sie morgen nicht mehr aufwachen. Sie sahen darin immerhin zwei Alternativen, aus denen sich mit etwas Mühe noch Hoffnung pressen ließ. Und sie warteten mit der Ungeduld einer verlorenen Jugend.

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