Probeliegen in Berlin (27.04.2003)

Es ist fast Mitternacht, Ende April. Eigentlich ist es warm genug, um die Fenster offen zu lassen. Aber ich bin hier nicht auf dem Land. Ich liege hier auf einer zu weichen Matratze auf dem knarrenden alten Parkett A.s Zimmer in einer Berliner Altbauwohnung, erstes Stockwerk, direkt an der Straße. Hohe Wände, Deswegen wäre es besser, jetzt das Rundbogenfenster zu schließen. Andererseits hilft das offene Fenster, den Gestank der Joints aus dem Zimmer zu tragen. Nein, ich kiffe nicht, aber A. tut es, der hier wohnt, gelegentlich, wenn Leute da sind, sonst vielleicht auch. Wie vorhin, bei unserem Treffen. Ich liege jetzt hier, es ist fast Mitternacht, und A. ist noch nicht wieder da. Trotzdem schön, einen Übernachtungsplatz gefunden zu haben, wie gesagt, eine Altbauwohnung, noch dazu unrenoviert. Eine WG; Modedesigner, Medienleute: neue Selbstständige. Innovation, wohin das Auge fällt. Improvisation. Die Schönheit uralter Kühlschränke und Gasherde. Ein äußerst innovativer Kampf ums Überleben. Selbst der Hund sieht innovativ aus. Ich kann mir nicht merken, wie er heißt, der Dalmatiner. Nett. Aber auch die Wohnung. Obwohl ich eigentlich lieber Katzen mag. Katzen sind zurückhaltend, aufdringlich und eigenwillig. Süß! Genau die richtige Mischung. Hunde dagegen können vor allem doof gucken. Aber Berlin ist eine Hundestadt. Mag sein, dass das was mit der Armut zu tun hat. Eine Zeitlang habe ich darüber nachgedacht, nach Berlin zu ziehen, wie alle. Nach dem Studium. Wegen der Politik, aber auch aufgrund der günstigen und großzügig geschnittenen unrenovierten Altbauwohnungen. Sowas von schick! Und wegen der Szene. Klamottenläden und so. Musik. Neue Medien, hippes Zeug. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Nicht nur, weil es direkt an der Straße laut ist, auch wenn das Fenster geschlossen ist. Vorhänge gibt es heute keine, die Fernsehturmsilberkugel blinkt ins Zimmer. Interessant, wie groß eine Straßenlaterne ist, wenn sie direkt vor dem Fenster steht. Gewinnt jeden Monströsitätswettbewerb gegen den Fernsehturm. Sie leuchtet eher gelb als orange. Vielleicht liegt es aber gar nicht daran. Ich meine, dass ich nicht schlafen kann. Obwohl die lange Zugfahrt früh am Morgen mich gestern fast komplett um meinen Schlaf gebracht hat. Im April im dunkeln aufstehen. Und dann eine Stunde Verspätung. Ich sollte müde sein, ganz klar. Was mich an Berlin stört, ist aber nicht nur diese Schlaflosigkeit. Diese Szene, die stolz drauf ist, dass ihre Partys nicht vor dem Mittag des nächsten Tages enden, und dann gleich weitergehen. Berlin, die Stadt, die nie schläft. Ich fühle mich genauso. Kein Schlaf, unruhig. Also: Sowohl lebendig, es passiert hier was. Jedes Mal hat sich irgend etwas verändert. Als auch nervös, ungewiss, hippelig. Berlin ist auch eine verdammt arme Stadt. Leicht zu übersehen in den schicken Konferenzräumen der Politik in Mitte. Solange sie nicht verlassen werden. Und auch die Klamottenläden und Medienkunstprojekte geben sich alle Mühe für ein gutes Bild. Im Hinterhof dagegen liegt der Müll, auch im Treppenhaus. Kein Geld für Reparaturen. Von außen sieht das Haus richtig heruntergekommen aus. Gegenüber liegen seltsame Ostbauten aus Platten. Keine Plattenbauten. Solche Platten wie die, mit denen bei uns die Wege durch die Vorgärten der Reihenhaussiedlungen gepflastert sind. Anscheinend können daraus auch Häuser gebaut werden. Großstadt eben, vielleicht. Dafür fehlen die kleinen netten Orte. Die gibt es hier nur für Touristen. Überhaupt ist die ganze Stadt ein einziges Touristenspektakel. Selbst die Obdachlosen wirken touristisch. Dazwischen ein paar protzige Bauten. Doch: die haben auch was, sind teilweise sehr elegant, ja, sogar schön. Bruce Sterling lobt den Berliner Reichstag als Musterbeispiel zukunftsfähigen Bauens. Mich beeindruckt das Glasdach des Hauptbahnhofs in spe. Aber in den Hinterhöfen und Unterführungen liegt der Müll der Metropole. Mit ein bisschen Fantasie: ein Alptraum, eine Allegorie auf ein Land ohne soziales Netz. Ich liege in Berlin und kann nicht schlafen. Vielleicht liegt es am Kaffee. Eine Sitzung, Neue Medien, super innovativ, wir sind ein ganzes Stück vorangekommen. Dank Koffein für die einen und THC für die anderen. Harte Stadt. Ich liege im Zimmer von A, in der schicken, ein wenig heruntergekommenen Berliner Altbauwohnung, unrenoviert. Gelogen. Nicht die Wohnung. Die Beschreibung passt - wenn es doch so was nur auch in der Provinz gäbe! Aber statt einzuschlafen, sitze ich im Straßenlaternen-Dunkel vor dem Leuchtschirm des Laptops und schreibe lieber diesen Text hier. Gerade eben erreicht mich eine SMS - das Berliner Nachtleben winkt. Ich winke zurück, entscheide mich dagegen. Ich werde jetzt das Fenster zumachen. Und vielleicht werden die alte, durchgelegene Matratze und ich ja doch noch Freunde, in der Hauptstadt im April.

© 2003 Till Westermayer