Another World (27.7.97)

Idyllisch sah es hier aus. Jedenfalls hätte jeder, der zufällig vorbeigekommen wäre, die Gegend hier so beschrieben. Postkartenlandschaft. Farben zum Wahnsinnigwerden: erhabene tiefe Grüntöne, ein strahlendes Blau, die mannigfaltigen Abstufungen von Rotbraun, Gelb und Wiesengrün, die sich die Hügel entlanggoßen. Weit und breit war nur Natur zu sehen, uralte, märchenhafte Bäume, entfernte Wälder, Berge, die bis in die wenigen Wolken reichen würden, im Sonnenglitzern dahinschnellende Flüsse, deren Rauschen sich mit den Tönen der Vögel und Insekten mischten. Einfach nur in der Wiese liegen, meditieren.

Wütend machte das Telefon auf sich aufmerksam. Das elektronische Schnarren lag mit hoher Priorität über allen anderen Sinneseindrücken, und schien jetzt langsam von der akustischen zur optischen Wahrnehmung überzuwechseln. Der Anruf war dringend.

Seiner Handbewegung folgend, von einem nur in seinem Kopf existierendem Fluchen begleitet, wurde die Simulation durchsichtiger. Gleichzeitig damit verdichtete sich die Wirklichkeit zu den Konturen eines kombinierten standardisierten Wohn/Schlaf/Arbeitszimmer für Telearbeiter. Back to reality, traurig wie immer. Mit einer weiteren Handbewegung nahm er den Anruf an.

* * *

Ein kleines unauffälliges Detail trennte die Menschheit in zwei Kategorien. Nur wer besonders aufmerksam die Handgelenke und Schulterringe seines Gegenübers beobachtete, konnte einigermaßen sicher sein, ob sich dieser jetzt in der gleichen Welt befand. In grauer Vorzeit waren es noch große, unförmige Apparaturen gewesen, ein Gewirr von Kabeln, graue und schwarze Kästen, den halben Kopf verdeckende Helme und große Teile des Körpers bedeckende Datenanzüge. Damals hatten sie es VR genannt, virtuelle Realität. Was es tatsächlich einmal sein würde, ahnten nur wenige Philosophen des 20. Jahrhunderts. Laroniers Träume davon, sich selbst in der Haut eines Hummers zu begegnen, Turkles Ideale der fließenden Identitäten. Die Verwandlung des Körpers bei Deleuze, Haraway und Ellrich. All das waren die unsichtbaren Spuren in der Vergangenheit.

Heute waren die Träume Wirklichkeit geworden. Heute war es nur noch das winzige externe Kontrollfeld an den Schultern und Handgelenken, das die Implementation eines fortgeschrittenen Simulators verriet. Aber ganz sicher sein konnte niemand. Inzwischen war es technisch möglich, auch diesen Bestandteil des Simulators unter die Haut zu verlegen. Und nicht jeder ließ sich davon abschrecken, daß eine nicht-identifizierbare Simulationsausrüstung nach den meisten Firmenphilosophien illegal war. Illegal war es auch, die Simulationsdichte über neunzig Prozent hochzudrehen. Schon fünfzig, sechzig Prozent standen im Verdacht, Abhängigkeiten hervorzurufen und schwere psychische Veränderungen. Es gab Wissenschaftler, die eine längere Existenz bei hundert Prozent Simulationsdichte für unmöglich erklärten. Und es gab Ausgeflippte, Freaks, Verrückte, die fast immer auf hundert Prozent Simulation lebten.

Wer sich die Operation nicht leisten konnte oder wollte, stand inzwischen ziemlich im abseits. Es gehörte heute zum guten Ton, im Hintergrund der Wirklichkeit den Simulator zu sehen. Die Grenzen waren fast unversöhnlich. Wer simulierte, hielt die andere Hälfte der Menschheit für beschränkt, eingeschränkt auf eine einzige Realitätsebene, ziemlich altmodisch und feige. In die andere Richtung liefen mahnende Worte vor den Gefahren und das Gefühl, daß die Hälfte der Menschheit vor hundert Jahren noch im Irrenhaus gelandet wäre, und daß das eigentlich der sehr viel richtigere Weg des Umgangs damit sei.

* * *

Kopfweh und Zahnschmerzen plagten ihn, und auch die leichte Entzündung am Handgelenk war nicht besser geworden. Irgendetwas mußte bei der letzen Operation unsauber gelaufen sein. Vielleicht war's auch nur die Übelkeit vom allzuschnellen Übergang. Das konnte ja nicht gesund sein, hier wieder aufzutauchen. Und auch das Telefonat konnte mit einer hohen Wahrscheinlichkeit als übelkeitserregender Faktor aufgefasst werden. Ja, er war ein weltweit gefeierter Simulationsdesigner. Seine Settings verkauften sich millionenfach. Erfolg war das letze, was ihm gefehlt hatte. Mann, er war Künstler, keiner von diesen kommerziellen Pfuschern. Und er wollte es auch bleiben. Noch immer die grauenhaft reale Telearbeiterklause. Aber dafür eine geniale Anlage.

Seine Agentin hatte ihn angerufen, ihn erneut auf die noch ausstehende Bearbeitung der Mängelliste hingewiesen. Ein Haufen lästiger Details, mühsame Kleinarbeit. Und ein paar konzeptuelle Änderungsvorschläge von Idioten, die keine Ahnung davon hatten, was sein Konzept war. Jede andere Firma hätte einen Haufen digitaler Tagelöhner für die Detailverbesserungen beschäftigt, und ihm nicht ins Konzept gepfuscht. Die üblichen Tagträumereien. Er war einer der digitalen Tagelöhner, wenn er ehrlich war. Seufzend, ächzend, stöhnend machte er sich an die Arbeit, drehte die Simulation auf siebzig Prozent und zog sich die Datenbanken heran.

* * *

Die bienenwabenartigen Einheitsgebäude der Sony-Bertelsmann schafften es, jeden äußeren Reiz völlig zu verbergen. Weltweit identisch, zweihundert Meter hoch, zweihundert Meter lang, fünfundzwanzig Meter tief. Zweitausendfünfhundert identische Wohneinheiten für digitale Arbeitsbienen. Und zweitausendfünfhundert hauseigene Hochleistungsanlagen für den Zugriff auf die weltweiten Datenbanken.

Von außen war den Sony-Bertelsmann-Bienenstöcken nicht anzusehen, ob innen das Produktionsteam eines weltweit millionenfach verkauften Traumes oder die Finanzverwaltung angesiedelt war. Es gehörte zur Firmenphilosophie, Unterschiede und Individualität nur in simulierten Realitätsebenen zu gestatten. Produzent der Simulationen: Sony-Bertelsmann. Es gab nur zwei Ausnahmen: Nicht-Telearbeitern, etwa in den semiautomatischen technischen Produktionsfabriken, war die Nutzung von Simulationen während der Arbeitszeit grundsätzlich verboten. Übertretungen wurden streng kontrolliert und geahndet. Ausnahme Nummer zwei war die Elite der freien Stars der Simulationen, die nicht bei einem der Konzerne angestellt waren, sondern ihre Produktionen in langwierigen Vertragsverhandlungen an den Meistbietenden verkauften. Diese hatten die Freiheiten, sich nicht an die Firmenphilosophie halten zu müssen, und trotzdem von Sony-Bertelsmann bezahlt zu werden.

Im Vergleich zu anderen Multis waren die Arbeitsbedingungen hier durchaus positiv zu erwähnen. Die hauseigene Verpflegung wurde in den entsprechenden Rankings immer wieder positiv herausgestellt, die Technik war einem weltweit führenden Simulationskonzern überaus angemessen, und Paaren wurde sogar gestattet, zusammenzuziehen, sofern beide bei Sony- Bertelsmann arbeiteten.

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Gleichzeitig mit dem Aufkommen immer besserer Simulationen stieg auch die Akzeptanz von Telearbeit. Als Telearbeiter entfielen lange Wege zur Arbeitsstätte, der Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen konnte vollständig in Kosimulationen stattfinden, und auch die Arbeitszeit wurde überaus flexibel handhabbar.

Als er hier angefangen war, hatte er in irgendeiner Datenbank mal eine Notiz gefunden, daß die Menschen im 20. Jahrhundert hart dafür gekämpft hatten, die wöchentliche Arbeitszeit von vierzig auf fünfunddreißig Stunden zu senken. Die Sony-Bertelsmann-Firmenphilosophie sah eine Regelarbeitszeit von zwanzig Stunden vor. Damals war er darüber hocherfreut gewesen. Inzwischen konnte er nur noch müde lachen, wenn er daran dachte. Seinen Hochrechnungen zufolge arbeitete er etwas über vierzig Stunden in der Woche. Die Arbeitszeit wurde nicht kontrolliert. Er hätte weniger arbeiten können. Dann würde er jedoch nicht mehr lange bei Sony-Bertelsmann arbeiten. Ständig neue Projekte und Eilaufträge bestimmten, wann er in den Firmendatenbanken anwesend war. Nicht er selbst.

Die Postkartenidylle war bloß ein Hobby. Sein Raum zum Meditieren und Ausspannen. Besser als alles, was kommerziell erhältlich war. Detailgetreu bis in die Rindenstruktur der Bäume. Ursprünglich steckte dahinter der Traum, groß einzusteigen, das ganze irgendwann per freiem Vertrag an den Konzern zu verkaufen. Doch je länger er daran arbeitete, desto länger zögerte er, das Projekt als fertig zu betrachten. Und er war sich auch schon lange nicht mehr sicher, ob er es überhaupt verkaufen wollte.

Privat hätte er sich eine Anlage, auf der solch ein detailiertes Projekt erstellt werden konnte, nie leisten können. Deswegen war er an seinen Arbeitsplatz bei Sony-Bertelsmann gefesselt. Nur so hatte er Zugriff auf die Resourcen, die für sein Projekt notwendig waren. An einen anderen Konzern verkaufen? Das kleingedruckte der Nutzungsveträge für die firmeneigenen Simulationsanlagen verbot jede unbefugte Weitergabe damit erstellter Realitäten an Nichtfirmenangehörige.

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Sie wußte, wie risikant es für ihn war, ihr Zugang zu diesen Daten einzuräumen. Hier draußen hatten nur wenige Möglichkeiten, aus der Wirklichkeit zu entfliehen. Es gab hier draußen auch nur wenige, die diese Möglichkeit überhaupt nutzen wollten. Was hier zählte, waren andere Dinge. Bioreaktoren zur Nahrungserzeugung. Stromgeneratoren. Fahrzeuge. Baumaterial. Wer unbedingt Simulationen sehen wollte, konnte ja in den WebFernseher schauen. Sicher, es war wahrscheinlich ein ganz anderes Gefühl, mitten in so einer anderen Welt drinne zu sein, als nur draufzuschauen. Aber wenn die Story gut war, reichte das völlig aus. Simulationen: Spielerei für reiche Kids.

Trotzdem hatte sie sich den Wunsch in den Kopf gesetzt, operiert zu werden, direkten Zugang zur Simulation zu bekommen. Es hatte lange gedauert, bis sie die Mittel und die Genehmigungen dafür zusammen hatte. Der Stammesrat hatte lange gezögert, von alten Prophezeihungen und bösen Vorahnungen gewispert, sie warten lassen.

Nach ihrer Operation hatte sie begonnen, einen dicken Trennstrich zu ziehen. Sie war Teil des Stammes, und sie mußte für den Stamm nützlich sein. Einen Teil ihrer Anwesenheit in anderen Wirklichkeiten gab sie deswegem dem Stamm. Der andere Teil ihres simulierten Lebens gehörte ihr selbst, war eigen und für alle anderen tabu. Denn es gab einen Grund dafür, warum sie sich diesen Wunsch in den Kopf gesetzt hatte. Eine Operation, nur um in Traumwelten zu wandeln, war zwar etwas sehr schönes. Sie war pragmatisch genug, um diese Form von Simulation als ebenso unnütz anzusehen, wie es die anderen im Stamm taten. Konzerne wie Sony- Bertelsmann verdienten sehr viel damit, anderen Leuten Träume zu verkaufen. Ihre Träume dort zu kaufen, - daß war ihr deutlich zu teuer.

Viel wichtiger war ihr die Simulation als direkter Zugang zur einheitlichen Kosimulation. Das war die Ebene, in der Politik und Wirtschaft, die großen Konzerne und die wichtigsten Banden ihre Geschäfte abschlossen. Und nur wer dort agieren konnte, hatte überhaupt die Möglichkeit, daran teilzunehmen. Das war der Bestandteil ihres Wunsches, mit dem sie den Stammesrat letztendlich überzeugt hatte. Dieser Teil des Wunsches gehörte dem Stamm.

Blieb noch ihr ureigener Wunschanteil. Der hieß 'Flucht', und zwar Flucht vor der Bornierheit und Langweile des Stammes. Sie gehörte hierher, sie war Teil des Stammes. Aber trotzdem wußte sie, das sie verblöden und veröden würde, wenn ihr Horizont auf den Alltag des Stammes beschränkt bleiben würde. Die Operation ermöglichte es ihr, zu fliehen, neue Leute und neues Wissen kennenzulernen, und zugleich Teil des Stammes zu bleiben. Nur wer pragmatisch war, konnte hier überleben.

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Eine Krise bietet immer auch die Chance und den Fluch, neuanfangen zu müssen. Ein Besucher aus der Vergangenheit hätte vieles vermißt, was damals normal war und heute verschwunden. Die gesellschaftliche Organisation hatte sich verändert. Zu den weltumspannenden Konzernen gehörten die konzerneigenen Wohnbienenstöcke der Telearbeiter, Schulen und Kindergärten, synthetisch-konzerneigene Urlaubsgebiete und schließlich eben auch Firmenphilosophien, die heute wichtiger waren als das, was früher einmal Justiz und Demokratie genannt worden war.

Heute war es möglich, die Menschheit nach ganz neuen Kriterien zu unterteilen. Es gab Arbeitsbienen, die Angehörigen eines der großen Konzerne. Einige von ihnen würden ihr ganzes Leben bei ein- und demselben Konzern verbringen.

Eine zweite Art von Menschen waren die Angehörigen der StarElite, meist Teile von Familienclans, die ihrerseits wieder konzernähnliche Strukturen bildeten und wie die Konzerne agierten.

Ein dritter Teil der Menschheit war ausgestoßen, schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten aller Arten durchs Leben, jobbte mal hier, mal dort, mal gar nicht, betrieben kleine und kleinste Geschäfte. Der Lebensstandard außerhalb der Konzerne lag deutlich niedriger. Zugleich waren es diese Menschen, die die Konzerne am Leben erhielten, die deren Produkte kauften und verkauften, die als nichtkonzernangehörige Zeitarbeiter die unteren Tätigkeiten ausführten und die billig waren, weil ein Konzern für diese Leute nur Lohn und nichts sonst zahlen mußte. Die letzten rudimentären Überreste der Nationalstaaten versuchten, das Leben dieser Leute zu verwalten, Worten wie Polizei, Justiz, Wahlen, Steuern, Sozialhilfe noch einen Rest von Sinn zu geben. Nicht überall auf der Welt war die Situation identisch: Mancherorts glich das Leben dieser ganz normalen Menschen dem Leben der Menschen im 20. Jahrhundert; und einige Staaten waren auch heute noch als solche ernstzunehmen. Andernorts war die äußere Organisation schwach, und der Zustand unkontrolliert und unkontrollierbar.

Die meisten der Konzerne waren bekannt, öffentlich und weithin sichtbar. Daneben existierten aber auch noch unsichtbare Strukturen, die in ihrer Organisationsform sehr viel mit den großen Konzernen gemeinsam hatten, die aber nur äußert selten an das Licht der Öffentlichkeit traten. Die Ursprünge hiervon lagen etwa bei der Mafia.

Weitestgehend getrennt von all diesen Systemen gesellschaftlicher Organisation gab es schließlich noch eine fünfte Gruppe von Menschen. Diese hatten sich dazu entschlossen, allem anderen so weit wie möglich den Rücken zuzukehren, konsequent ihre eigenen Ideen von Leben durchzusetzen und so wenig wie möglich Kontakt mit anderen zu haben. Eine Vielfalt unterschiedlicher, selbstorganisierter, relativ kleiner Stämme war so entstanden. Die meisten hatten sich in Gebiete zurückgezogen, die uninteressant geworden waren. Wüstenartige Steppen, verlassene, geplünderte Städte, von Überschwemmungen geplagte Inseln. Selbst auf einigen der alten Raumstationen hatten Stämme die Herrschaft übernommen. Zwischen den einzelnen Stämmen gab es ein loses Netzwerk an Kontakten. Mehr aber auch nicht.

Das Leben eines durchschnittlichen Menschen des frühen 22. Jahrhunderts konnte sehr, sehr unterschiedlich aussehen, je nachdem, in welches gesellschaftliche System er oder sie hineingeraten waren. Kontakte zwischen den Systemen meinten meist zugleich Konflikte. Territoriale Hohheiten überlagerten sich und zerflossen in aussichtslosen Mustern. Einzig die einheitliche Kosimulation bot sich als gemeinsame Plattform für Verhandlungen und Begegnungen an.

* * *

Er war auf sie aufmerksam geworden, als sie sich sichtlich unbeholfen und neu durch die Simulation seiner Stammkneipe bewegte. Er signalisierte seine Hilfsbereitschaft, und sie nahm diese an. Er wußte alles über Simulationen, und sie lernte sehr schnell. Eine Art von Vertrauen entwickelte sich, und eines Tages hatte er sie eingeladen, die Postkartenidylle zu betreten. Sie war keine Angehörige von Sony- Bertelsmann; seltsamer noch: nirgendwo an ihrer simulierten Identität war überhaupt irgendein Logo zu finden. Für ihn war und blieb es ein Rätsel, daß sich auch nicht aufklärte, da ihre unterschiedlichen Lebenswelten Gespräche schnell stocken ließen, wenn Felder außerhalb der Simulation berührt wurden. Die simulierte Wirklichkeit bot Ansatzpunkte für Gespräche genug.

Natürlich wußte er, daß es außerhalb der Konzerne noch andere Wirklichkeiten gab. Seine Eltern zum Beispiel hatten Zeit ihres Lebens einen kleinen Laden geführt, nicht als Konzernangehörige, sondern als Bürger ihrer Stadt und ihres Staates. Die meisten nicht-konzerneigenen Simulationsausrüstungen verwendten für die simulierten Identitäten modifizierte Logos der Herstellerfirmen, teilweise auf Wunsch der Regierungen auch Kürzel für die Gebietskörperschaften, in denen die NutzerInnen lebten. Aber vielleicht gab es dort neuerdings auch logolose Identitäten zu kaufen? Er vermutete jedenfalls, daß sie - wenn sie nicht anonym bleiben wollendes Mitglied einer der großen Familien war - aus diesem Milieu kam, eine der altmodischen Menschen, die genauso gut im 20. Jahrhundert hätte leben können.

Stämme gab es für ihn nicht. Sie waren Märchen, namenlosen Utopien, nichts jedenfalls, was irgendwie ernstzunehmen gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte er es für einen Teil der simulatierten Identität gehalten, wenn sie ihm ihre Herkunft erzählt hätte. Aber dazu kam es nie.

* * *

Sie wußte, daß es für ihn ein hohes Risiko war, ihr Zutritt zu gewähren. Sony-Bertelsmann wußte, warum der Zugang zu den konzerneigenen Datenbanken durch hohe Feuerwälle geschützt war. Sie wußte es auch.

Die Postkartenidylle war wunderschön. Seine dort verfestigte Phantasie kam fast an die Realität heran. Hier oben in den Bergen, wo ihr Stamm die meiste Zeit verbrachte, sah es ganz ähnlich aus, manchmal. Und echter sah es auch aus. Aber für eine Arbeitsbiene aus den Einheitsbienenstöcke der Konzerne war seine Arbeit sehr gelungen. Ihre eigenen Versuche, gestaltend in der Simulation tätig zu werden, waren längst nicht so ausgefeilt, und sehr viel stärker auf Funktionalität ausgelegt, weniger auf Illusion.

Zu dieser Funktionalität gehörte auch eine klitzekleine Veränderung, die sie an der Postkartenidylle vorgenommen hatte. Auf der Rückseite eines Baumes brachte sie ein Tor an - es hatte die Form einer Spechthölle oder eines Eichhörnchenbaus oder dergleich. Niemand würde es je auffallen, nicht einmal ihm. Und wer würde schon versuchen, in der Simulation einer Postkarte die Höhle eines Spechts zu betreten? Er garantiert nicht, und Sony-Bertelsmann hoffentlich auch nicht.

Die Verbindung zwischen ihm und ihr verschwand bald wieder, in der Vergessenheit der Vielfalt der Begegnungen der Kosimulation. Ob es Romantik war, Abenteuerlust oder schlicht Nachlässigkeit, die ihn dazu brachte, seinen Zugangscode nie zu ändern, wußte sie nicht. Jedenfalls kannte sie ihn, und sie kannte auch einen sehr schnellen Weg, um von seiner Simulation aus zum Spechtloch zu kommen.

Sie hatte sehr schnell gelernt, in die Datenstrukturen hinter den Illusionen der Simulation zu schauen. Dort, in den Datenstrukturen, die fast niemand mehr kannte, die fast alle nur noch vermittelt durch Gestaltungsprogramme betraten, kannte sie sich aus. Und dort verbargen sich einige Geheimnisse, die zusammen mit den Strukturen in Vergessenheit geraten waren.

* * *

Bisher ist es der konzerneigenen Datensicherheitsabteilung von Sony- Bertelsmann nicht gelungen, den Urheber der digitalen Diebstähle zu fassen. Sicher ist bis jetzt nur, daß der - nur durch Zufall überhaupt entdeckte - Raub sowohl von firmeneigenen Daten als auch von firmeneigenen Geldäquivalenten nicht mit Hilfe von Programmen erfolgte. Nur in mühsamer Handarbeit kann dieser Raub möglich gewesen sein. Denn jedes Programm, jede Agentin und jeder Agent hinterläßt Spuren, typische Spuren. Und diese sind bisher zumindest nicht zu finden.

Ein letztes Mal schaute sie sich im künstlichen Wald um. Trotz des Risikos, hier entdeckt zu werden, setzte sie ein kleines Insekt aus. Ein Agent, der nach und nach - über mehrere anonyme Relaisstationen - auch diese Daten überspielen würde. Zwar waren die Gestaltungsdaten der Postkartenidylle wertlos, aber sie fand sie irgendwie schön. Einige Augenblicke zuvor war dieses Insekt noch der Programmcode für das Spechtloch gewesen. Das Loch existierte nicht mehr. Und auch sie würde für diese Landschaft und alle ihre NutzerInnen in wenigen Sekunden nicht mehr existieren.

In der Ferne plätscherte der Bach. Die Farbtöne und Strukturen strahlten die Ruhe eines sommerlichen Nachmittages aus. In regelmäßig unregelmäßigen Abständen ertönten die Rufe der Vögel und Insekten. In diesem meditativen Rhythmus lag für ihn das eigentliche Geheimnis der Idylle. Nur das surren einer Schnacke störte ihn, es paßte nicht hinein. Jetzt umschwirrte sie ihn. Halb am dösen schlug er nach ihr und erwischte sie wohl. Irgendetwas störte ihn an der Existenz der Schnacke, aber er wußte jetzt nicht, was es war, und er war auch viel zu faul und zu müde, um diesem Gedanken jetzt noch weiter nachzugehen.

Vielleicht war es besser so. Schon nach kurzer Zeit hatten die Daten der Idylle aufgehört, hereinzutropfen; bisher hatte sie nur ein paar grobe Landschaftsstrukturdaten und Fraktalinitialisationen zusammen. Schade. Es juckte ihr in den Fingern, noch einmal den geheimen Zugang zu benutzen. Mit einer Handbewegung löschte sie die Memodatei, in der die Zugangsdaten verwahrt waren. Sie hatte keine Lust darauf, in die Hände des Sony- Bertelsmann-Sicherheitsdienstes zu gelangen. Und eigentlich - sie drehte die Simulationsdichte auf zehn Prozent runter - eigentlich hatte sie hier einen sehr viel echteren Wald. Vielleicht war es besser so.

(Ende)


© 1997 Till Westermayer. Stand: 9.1.1999. Automatisch konvertiert durch html.exe. Kommentare, Beschwerden und Nachfragen bitte an Till We richten - Danke!