Till Westermayer, im Oktober 2000

Expose (v 0.76) zu: "Was passiert, wenn eine Partei im Netz tagt?
Der 'Virtuelle Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen aus soziologischer Sicht"

Vom 24.11. bis zum 3.12.2000 findet der vermutlich erste ‘virtuelle Parteitag’ einer größeren Partei statt. Geplant ist es, diesen Parteitag analog zu einem kleinen Landesparteitag zu strukturieren, d.h. es wird 100 Delegierte geben, und der Parteitag beschränkt sich auf die Behandlung weniger Themen. In diesem Fall soll er sich inhaltlich mit der Frage der Online-Demokratie und mit der Frage der Ladenöffnungszeiten auseinandersetzen. Hierzu wird es jeweils Antragspapiere des Landesvorstands geben, über die dann in Online-Diskussionsforen geredet – mitschreiben dürfen prinzipiell alle etwa 7.500 Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg – und mit Hilfe einer Abstimmungssoftware abgestimmt werden kann – dies ist nur den Delegierten möglich, die dafür auf Diskette einen Schlüsselcode erhalten. Der Parteitag findet über einen längeren Zeitraum statt als ein ‘traditioneller’ meist eintägiger kleiner Parteitag, um die genannte Asynchronität der Diskussion als einen der medialen Vorteile des Netzes nutzen zu können. Daraus ergeben sich strukturelle Veränderungen – so müssen z.B. die ‘Wahlurnen’ über einen längeren Zeitraum offen gehalten werden und Wahlgänge langfristig angekündigt werden, um auch denjenigen Delegierten eine Teilnahme zu ermöglichen, die sich z.B. nur abends zuhause in den Parteitag einklinken können. Auch die Funktion des Parteitagspräsidiums ändert sich. (Vgl. Mausch 2000)

Wissenschaftliche Anschlussfähigkeit. Da es sich bei diesem ‘virtuellen Parteitag’ um ein Pionierexperiment handelt, eröffnen sich auch aus wissenschaftlicher Sicht viele neue Fragestellungen. Bisherige Untersuchungen haben sich entweder aus politikwissenschaftlicher Sicht mit den Potenzialen des Internet für demokratische Beteiligung befasst und einzelne Phänomene, insbesondere die Nutzung des Internet für Wahlkämpfe und politische Aktionen näher beleuchtet (z.B. Bieber 1997, Hagen 1997, Heinrich-Böll-Stiftung 1998, Jarren 1998, Kamps 1999, Kleinsteuber 1996, Kleinsteuber / Hagen 1998, Kuhlen 1998, Leggewie 1997, Leggewie / Maar 1998, Stradtmann 1998 u.v.a.m.; vgl. auch Westermayer 1998), oder haben aus psychologischer oder soziologischer Sicht die Auswirkungen der Internetkommunikation auf das Individuum oder die Gesellschaft erforscht (z.B. Döring 1997, Gräf / Krajewski 1997, Helmers et al 1998, Münker /Roesler 1997, Slevin 2000). Speziell zu den Auswirkungen des (vernetzen) Computereinsatzes auf die innere Organisation von Parteien ist mir bisher nur Bogumil/Lange (1991) bekannt; zu Veränderungen der partei-internen Kommunikation durch das Internet gibt es – nach meinen bisherigen Recherchen – momentan noch keine Arbeiten. Anschlussfähig erweisen sich hier eventuell die Arbeiten von Claudia Bremer u.a. zu virtuellen Konferenzen im politischen Raum (vgl. Bremer / Fechter 1999) sowie einige Arbeiten aus dem Bereich der Tele-Kooperation – Stichwort CSCW, Computer Supported Cooperative Work –, die sich allerdings vor allem mit technischen und psychologischen Fragestellungen befassen, und nicht zuletzt Arbeiten aus dem Bereich der Techniksoziologie zur Frage der Einbettung technischer Artefakte in soziale Gegebenheiten.

Fragestellung der Magisterarbeit. Es ließe sich also vielerlei im Zusammenhang mit dem ‘virtuellen Parteitag’ erforschen – allerdings nicht im Rahmen einer Magisterarbeit. Was ich mir anschauen möchte, ist deswegen zugespitzt formuliert die Frage, wie die TeilnehmerInnen des Parteitags diesen im Unterschied zu realen Parteitagen sozial erleben – bezüglich der Kommunikationsstruktur, die immer auch eine Machtfrage darstellt, bezüglich der Möglichkeit zur Beteiligung (viele der genannten Arbeiten zu den politischen Potenzialen des Internet gehen hier von hochgradig gesteigerten Partizipationsmöglichkeit aus), und bezüglich des Geschlechterverhältnisses. Dabei wird es mir vor allem darum gehen, die möglicherweise durch das Medium Internet bedingten Veränderungen der drei genannten Aspekte gegenüber ‘traditionellen’ Parteitagen empirisch (sowohl qualitativ wie auch quantitativ) zu untersuchen.

Forschungsdesign. Um dieses Ziel zu erreichen, möchte ich zum einen soziodemographische Basisdaten (wie Alter, Geschlecht, Bildungsgrad) sowie einige speziellere Fragestellungen (vor allem zu den Vorerfahrungen mit grünen Parteitagen und zur Computerkompetenz und zum Zugang) über alle TeilnehmerInnen erheben. Diese Daten bieten zusammen mit ebenfalls quantitativ erhebbaren Daten über die Teilnahmehäufigkeit und das Ausmaß der Beteiligung an den Onlineforen den Hintergrund für die qualitative Untersuchung. Soweit es möglich ist, möchte ich diese Daten mit Daten über bisherige Parteitage vergleichen. Von der Partei Bündnis 90/Die Grünen erfasst ist hier zum einen das Geschlechterverhältnis , zum anderen liegen Tonaufzeichnungen der Parteitage vor, so dass ein strukturell (d.h. auch auf die Behandlung eines inhaltlichen Papiers bezogen) vergleichbarer Ausschnitt aus einer Diskussion eines ‘traditionellen’ Parteitags herangezogen werden kann. Außerdem werde ich hier auf eigene Erfahrungen mit Parteitagen von Bündnis 90/Die Grünen und eventuell auch auf die Literatur zurückgreifen können. Nach ersten Recherchen gibt es allerdings nur wenige Arbeiten zu ‘unpolitischen’ Fragen der Parteiarbeit. Im Bereich der Grünen wurde einiges erforscht, das meiste bezieht sich hier allerdings auf die Parteitage der GRÜNEN bis etwa 1990 (vgl. Raschke 1993), und ist nicht unbedingt auf die heutige Situation anwendbar. Möglicherweise ist hier ein Rückgriff auf Literatur allgemeiner Art (etwa Bremer / Fechter 1999) notwendig. Bei der qualitativen Untersuchung möchte ich nach Ablauf des Parteitags vier bis acht Personen beiderlei Geschlechts zu ihren Erfahrungen mit dem Parteitag – insbesondere hinsichtlich der oben genannten Aspekte – interviewen. Dabei sollte es sich nicht um ‘Promis’, sondern um ‘einfache Mitglieder’ handeln. Zur Kontrastierung schwebt mir dabei folgende Matrix vor, verbunden mit der Hoffnung, damit sowohl geschlechtsspezifische Beteiligungsunterschiede als auch mögliche Motive für starke/schwache Teilnahme herausfinden zu können.


Frau, obere 20% bzgl. Beteiligung        Mann, obere 20% bzgl. Beteiligung

Frau, untere 20% bzgl. Beteiligung      Mann, untere 20% bzgl. Beteiligung

Zusammenfassung. Meine Magisterarbeit soll im Anschluss an Arbeiten zur politischen Kommunikation im Internet, und zu den sozialen und individuellen Auswirkungen der Internetkommunikation explorativ den ‘virtuellen Parteitag’ aus soziologischer Sicht untersuchen. Der Schwer-punkt liegt dabei auf den Fragestellungen der Kommunikationsstruktur, der Beteiligung und des Geschlechterverhältnisses. Als Hintergrund für die Auswertung qualitativer Interviews dienen statistische Daten zum Parteitag, der Vergleich mit bisherigen Parteitagen, sowie nicht zuletzt eine Beschreibung der Struktur und der Kommunikationen/Interaktionen, die im Lauf des ‘virtuellen Parteitags’ zu Tage treten. Demokratietheoretische, politikwissenschaftliche Fragestellungen und organisationswissenschaftliche Fragestellungen müssen dabei weitgehend ausgeklammert. Ein Ergebnis der Arbeit könnte in einer begründeten Beurteilung davon liegen, ob die Virtualisierung des Parteitags zu einer Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten der Parteimitglieder und zu einer Einbindung breiterer Teile der Partei in den politischen Entscheidungsprozess führt oder nicht.

Till Westermayer

Literatur

BIEBER 1997
Christoph Bieber: »Erst surfen, dann wählen? Die US-Präsidentschaftswahlen 1996 und das Internet«, in Transit 13, 1997, S. 94-103.

BOGUMIL / LANGE 1991
Jörg Bogumil; Hans-Jürgen Lange: Computer in Parteien und Verbänden. Mensch und Technik Bd. 21; Opladen: Westdeutscher Verlag 1991.

BREMER / FECHTER 1999
Claudia Bremer, Mathias Fechter (Hrsg.): Die Virtuelle Konferenz – Neue Möglichkeiten für die politische Kommunikation. Essen 1999.

DÖRING 1997
Nicole Döring: »Besonderheiten der Kommunikation im Internet«, in B. Batninic (Hrsg.): Internet für Psychologen, Göttingen 1997.

GRÄF / KRAJEWSKI 1997
Lorenz Gräf (Hrsg.); Markus Krajewski (Hrsg.): Soziologie des Internet. Handeln im elektronischen Web-Werk. Frankfurt am Main / New York: Campus 1997.

HAGEN 1997
Martin Hagen: Elektronische Demokratie. Computernetzwerke und politische Theorie in den USA. Hamburg: LIT 1997.

HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG 1998
Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Elektronische Demokratie. Eine Textsammlung. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung 1998.

HELMERS ET AL. 1998
Sabine Helmers; Ute Hoffmann; Jeanette Hofmann: Internet … The Final Frontier: Eine Ethnographie. Schlußbericht des Projekts »Interaktionsraum Internet. Netzkultur und Netzwerkorganisation«. WZB-Paper FS II 98-112; Berlin: Wissenschaftszentrum für Sozialforschung 1998.

JARREN 1998
Otfried Jarren: »Internet – neue Chancen für die politische Kommunikation«, in Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/1998; S. 13-21.

KAMPS 1999
Klaus Kamps (Hrsg.): Elektronische Demokratie? Perspektiven politischer Partizipation. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999.

KLEINSTEUBER 1996
Hans J. Kleinsteuber (Hrsg.): Der »Information Superhighway«. Amerikanische Visionen und Erfahrungen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.

KLEINSTEUBER / HAGEN 1998
Hans J. Kleinsteuber/Martin Hagen: »Was bedeutet «elektronische Demokratie»? Zur Diskussion und Praxis in den USA und Deutschland«, in Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 1/1998, S. 128-143.

KUHLEN 1998
Rainer Kuhlen: Die Mondlandung des Internet. Die Bundestagswahl 1998 in den elektronischen Kommunikationsforen. Universitätsverlag Konstanz (UVK) 1998.

LEGGEWIE 1997
Claus Leggewie: »Netizens oder: Der gut informierte Bürger heute«, in Transit 13, 1997, S. 3-25.

LEGGEWIE / MAAR 1998
Claus Leggewie und Christa Maar (Hrsg.): Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteligungsdemokratie. Köln: Bollmann 1998.

MAUSCH 2000
Marc Mausch: Website des virtuellen Parteitags, http://www.virtueller-parteitag.de.

MÜNKER / ROESLER 1997
Stefan Münker und Alexander Roesler (Hrsg.): Mythos Internet. Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1997.

RASCHKE 1993
Joachim Raschke: Die Grünen: Wie sie wurden, was sie sind. Köln: Bund-Verlag 1993.

SLEVIN 2000
James Slevin: The Internet and Society. Cambridge: Polity Press 2000.

STRADTMANN 1998
Philipp Stradtmann: Deutschland auf dem Weg in die elektronische Demokratie? Das Internet als neues Medium der politischen Kommunikation und Partizipation. Diplomarbeit; Hochschule für Musik und Theater Hannover 1998.

WESTERMAYER 1998
Till Westermayer: Politik im Internet. Ahnen, Projekte und Chancen. Hausarbeit am Institut für Informatik und Gesellschaft, Universität Freiburg i.Br. 1998. http://www.westermayer.de/till/uni/sin-ha.htm